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7. 3 Erich Loest: Der elfte Mann

7. 3. 1 Basis-Analyse

Jürgen Hollstein hat ein Problem: Er verfügt über einen begnadeten linken Fuß, der ihn über kurz oder lang in die Fußball-Nationalmannschaft der DDR bringen würde. Und er könnte der DDR zu einem Ausweg aus ihrem maroden Bauwesen verhelfen, denn als einer der begabtesten Studenten seines Physik-Professors Bernskohn wird ihm eine Stelle am entstehenden prognostischen Baustoffinstitut offeriert — zügige Promotion und eine anschließende leitende Stellung inklusive. Zweimal die Chance des Lebens. Nur welche ist richtig?

Von dieser Entscheidungsfindung ist der Roman geprägt. Zunächst versucht der Oberliga-Kicker und eifrige Student Fußball und Studium unter einen Hut zu bringen. Das gelingt bedingt, doch zeigt sich hier schon, dass beide Begabungen einander im Weg stehen. Auf dem Rasen denkt er an seine Versuche, das Training schlaucht ihn so, dass er zu müde zum Lernen ist. Von der Uni geht’s direkt auf den Fußballplatz, abends muss er sich auf den nächsten Uni-Tag vorbereiten: Studieren, trainieren, studieren, trainieren. Zeit für ein Privatleben bleibt da wenig. Maximal für ein paar Frauengeschichten, die aber eigentlich nur Zweckgemeinschaften sind: Renate, die fesche Schuhverkäuferin, rundet die Erscheinung des erfolgreichen Fußballers ab. Uta, die heimlich in ihn verliebt ist, fertigt manchmal in den Vorlesungen für ihn Mitschriften an.

In Unordnung gerät dieser Drahtseilakt zwischen Studium und Fußball, als sich Hollstein die beiden erwähnten Chancen bieten. Mit seiner Berufung in die B-Nationalmannschaft zum Spiel gegen Bulgarien verbindet er sofort einen dreiwöchigen Studienausfall, der so leicht nicht zu kompensieren wäre. Allerdings führt der Weg zum Held der Nationalmannschaft nur über die Nationalmannschaftsreserve. Nach und nach setzen ihm seine Förderer immer mehr zu. Eine Entscheidung muss fallen. Und klar ist auch, dass eine Entscheidung für ein Talent gleichzeitig die Verkümmerung des anderen bedeutet. Brillantes Physikerhirn oder das Bein der Nation? Letztlich entscheidet sich Hollstein dafür, der Nation aus ihrer Baukrise zu helfen. Die Entscheidung dazu ist moralischer, aber auch persönlicher Natur. Und den Fußball-Funktionären passt sie natürlich gar nicht.

7. 3. 2 Einordnung in einen Aufbaumuster-Typ

Loests Roman Der elfte Mann zeigt die Strukturen des Aufbaumuster-Typs Kasus I. Obwohl Jürgen Hollstein bereits in der Oberliga, der höchsten Spielklasse der DDR, einen Stammplatz in seiner Mannschaft[557] hat, kann es für ihn auf der Karriereleiter noch weiter nach oben gehen. Die Funktionäre des DDR-Fußballs sind sicher: „Du kannst ganz groß werden, […]. Drei Jahre rackern, und du hast deinen Stammplatz in der Nationalelf.“[558] Für den Fußballer Hollstein ist die Nationalmannschaft das Ziel, somit ist er als Aufsteiger identifiziert.

Der Student Hollstein hingegen hat ganz andere Ziele. Und damit sind wir bei den zwei Normsystemen, denen der 21-Jährige — entsprechend den aufgestellten Richtlinien für dieses Aufbaumuster — angehören muss: Studium vs. Sport. Talent wird ihm auf akademischer wie sportlicher Seite attestiert.

Beschreibung der beiden Normsysteme (Kasus I): Zunächst ist da der Student Hollstein, der sein Studium vom ersten Tag an genießt: „Bernskohns Bunte Bühne. Der Professor hatte nicht mit Maschinen und Prospekten, Blitz und Feuerregen gespart, und jeder der frischgebackenen Studenten war überzeugt gewesen, haarscharf das richtige Fach gewählt zu haben, Physik, hochinteressant, lebendig, attraktiv.“[559]

In diesem Normsystem ist Hollstein ein Zahlenjongleur, der „das Ineinandergreifen von Gedanken, das Schreiten auf dichtgefügter Fläche, das Türmen von Quadern, Spalten und Säulen, die endliche Detonation“[560], genießt. Eine Gleichung ist eine Herausforderung, sie ist „Spiel, Ernst, Locken und Erfüllung.“[561] „Hollstein hatte am Ende des ersten Studienjahres erfolgreich abgeschnitten mit guten und sehr guten Noten in allen Fächern.“[562] Die Fakultät beschließt eine Begabtenförderung und möchte Hollstein an diesem Programm teilnehmen lassen. Im Gespräch darüber, registriert Professor Bernskohn „Freude auf Hollsteins Gesicht: Spaß an der Arbeit, mit anderen lohnte die Mühe ohnehin nicht […].“[563]

Der Fußballer Hollstein, der „in der neunten Klasse […] [noch] Langstreckenlauf trainiert“[564] hatte, kann auf ähnlich erfreuliche Aussichten blicken. Fußball spielte er damals wohl nur in der Schule. Bei einem Schulsportfest, also eher zufällig, „fiel [dem Talentsucher Böhm] der Junge mit dem explosiven Antritt auf, dem scharfen Schuß mit dem linken Bein.“[565] Und so entwickelte er sich zu einem für den DDR-Fußball sehr wertvollen Spieler, der als Linksaußen  nicht — wie die anderen — den Ball erst auf den rechten Fuß legen musste, um eine halbwegs ansehnliche Flanke in den Strafraum zu schicken. In Berlin[566] war man sich dieser Tatsache bewusst: „Hollsteins linkes Bein, dieses kostbare, begabte linke Bein mußte gehätschelt werden. […] Linksbeiner waren rar, man konnte sie nicht backen.“[567] Und darum will Kerkrade, der zweitwichtigste Funktionär im Zentralverband, „Hollstein in die neu zu formierende Nationalreserve“[568] eingliedern, die in drei Wochen ein Länderspiel in Bulgarien hätte. Doch Hollsteins Vereinstrainer Archold hat wegen Jürgens gerade überstandener Knieverletzung Bedenken: „Eine schöne Chance für Sie, […]. Wenn Sie keine Trainingsrückstände hätten, könnten Sie übermorgen im Vorbereitungslager sein.“[569] Drei Wochen Trainingslager in Bulgarien bedeuten für Hollstein aber auch „drei Wochen Studienausfall [,] [die] wären nicht im Handumdrehen zu verkraften.“ Eine Gewissensfrage. „,Schade’, sagte er zu Archold, wie er zu Vater gesagt hätte: ,Gott sei dank.’“[570]

Beide Systeme — Kasus I entsprechend — haben ihre eigenen Gesetzmäßig­keiten. Uni, das bedeutet ab den frühen Morgenstunden absolute Konzentration, schnelle Auffassungsgabe und manchmal auch Frustration:

„Das Ergebnis der skalaren Multiplikation a mal b ist kein Vektor, und das Assoziativgesetz ist nicht erfüllt. Hollstein hörte Überleitungen: Sie sehen sofort — Sie können sofort bestätigen — daraus folgt natürlich — es ist klar, daß Lambda falsch sein mußte, wenn — Hollstein sah nicht sofort, konnte nicht bestätigen, nichts war klar.“[571]

Außer, dass er, was er nicht verstanden hatte, würde nacharbeiten müssen: In „drei Tagen frühestens, in der Stille, bei einer Kanne Tee, würden sich die Bruchstücke fügen.“[572] Soviel steht fest.

Nachmittags kommt das Training. Die Philosophie des Trainers macht die Anstrengungen deutlich: „Disziplin, […], wer am Sonnabend gewinnen wollte, mußte sich ab Montag ins Zeug legen.“[573] Für die Spieler hieß das neben einer strikten Gewichtskontrolle[574]:

„Jonglieren, Ball aufs Knie, auf den Kopf, Brust, Knie, immer wieder Spann, fast von der Spitze abgerutscht, hochschlagen und tanzen lassen. […] Zwei Mann stellten sich einander gegenüber, köpften sich den Ball zu, gingen in die Hocke, in den Stütz, Brust aufs Gras, wieder hoch, dabei immer den Ball von Kopf zu Kopf hin und her.“[575]

Und diese Anstrengungen fordern ihren Tribut ein. Das Bier mit den Mannschaftskameraden nach dem Training lässt Hollstein aus, da er sonst nichts mehr begreifen würde, „weder die Passivkonstruktionen im Englischen noch die vierzehn Anwendungsmöglich­keiten von face und to face und schon gar nichts vom Vektor.“[576] Das abendliche Vorbereiten der kommenden Vorlesung ist erste Bürgerpflicht, er bezeichnet sie als „die dritte Runde dieses Tages.“[577]

Beide Systeme konkurrieren miteinander (Kasus I): Zunächst ergibt sich schon aus der Doppelbelastung eine Konkurrenz. Hollsteins Abende sind ritualisiert: Nach dem Training etwas schlafen, dann zum Beispiel ein wenig nachdenken über die „Projektion eines Vektors auf einen anderen.“[578] „Archold hatte sein Recht verloren, Bernskohn dominierte wieder, es war nicht einfach, zween Herrn zu dienen.“[579] Doch noch ist sich Hollstein sicher: „Er schaffte beides, ohne Frage, es war nur ein Organisationsproblem.“[580] Doch dann werden die Anforderungen, die beide Systeme an ihn stellen, werden größer. Zunächst im Fußball: Hollstein, der die Bestenförderung der Uni angenommen hatte, sieht sich nun mit den Anforderungen der Fußballwelt konfrontiert: „Die Bulgaren hatten gebeten, dass B-Länderspiel um vier Wochen zu verschieben.“[581] Nun war er wieder im Rennen: Hollstein war von Kerkrade erneut „zum B-Lehrgang in Bulgarien eingeladen worden. ,Ich gratuliere. Eine herrliche Chance […]’“[582], freut sich Trainer Archold, der sich sicher ist, dass Hollstein dieses einmalige Angebot annimmt: „,In Bulgarien werdet ihr schwitzen!’“[583] Aber auch die akademische Gegenseite hat großes mit Hollstein vor: Er und ein weiterer Student sollen später einmal „für das industriemäßige Bauen […] neue Baustoffe“[584] entwickeln. Genosse Hankdey, Parteiinstrukteur aus Berlin, war eigens angereist, um den beiden Studenten das Angebot zu unterbreiten: „,Wir möchten Ihre Ausbildung in Zusammenarbeit mit ihren Professoren beeinflussen. Wir möchten, daß Sie sich intensiv mit dem beschäftigen, was später an Sie herantritt.’“[585] Ein Stufenplan war in Berlin erarbeitet worden: „zusätzliche Kurse, Praktikum in Kliethendorf[586], vielleicht schon Überstellung während des letzten Semesters. Zügige Promotion, rasche Befähigung, eine leitende Position zu übernehmen. ,[…] Ich halte es für die Chance Ihres Lebens.’“[587] Die Angebote beider Systeme sind klar umrissen. Doch beide verlangen Ausschließlichkeit. Einstein oder Matthews[588], wie Hollstein selbst feststellt. Sollte er sich für den akademischen Weg entscheiden, würde er „nicht in dieses Trainingslager und nicht zu anderen Sportlehrgängen fahren können. Beides nebeneinander schafft keiner.“[589] Das gilt auch andersherum.[590]

Zwangsläufig muss sich der Protagonist für ein System entscheiden (Kasus I): Hollstein erkennt in diesem Fall zwar nicht das System Fußball als grundsätzlich falsch, er erkennt es für sich persönlich als falsch: Zweifel kommen auf, ob er wirklich das Talent zum international renommierten Fußballstar hat,

„konnte er im Training nachholen, was er mit zwölf Jahren nicht gelernt hatte? Pele, Garrincha, Santos hatten als Jungen jeden Tag zehn Stunden lang Fußball gespielt in irgendeiner Straße, an einem Strand, hatten die Schule geschwänzt und keinen anderen Traum gehabt als den, Fußballstar zu werden. Was hatte er alles durcheinander geträumt?“[591]

Die Entscheidung für das akademische System ist dann eine moralische: Ein Leben ohne Formeln? Es „wäre ihm beschissen leer vorgekommen ohne Physik und Mathematik; weg mit großen Tönen: Hier lag der Kern.“[592]

Die Entscheidung fällt gegen den Sport (ist im Aufbaumuster-Typ Kasus I auch möglich): Seine Absage für die Nationalmannschaftreserve wirbelt allerdings Staub auf: Der Fall Hollstein wird zum Politikum, da der ausgestochene Fußballverband die Partei einschaltet. Es muss geklärt werden, auf welchem Gebiet Hollstein dem Staat mehr nutzen kann. Nochmals Einstein oder Matthews, aber über Hollsteins Kopf hinweg:

„Mußte es denn gerade Hollstein sein, der so schnell in ein Baustoffinstitut übernommen würde? Bernskohn lächelte: Mußte denn gerade Hollstein Tore schießen? Noch ein Anlauf von Archold: Man war nur in gewissen Jahren ein gute Fußballer. Gegenschlag von Bernskohn: Ein Hirn bildete sich nur in gewissen Jahren maximal aus, leider offensichtlich in denselben.“[593]

Die Diskussion in Bernskohns Zimmer führt also zu keinem neuen Ergebnis. Fußball-Funktionäre und Trainer haben nur noch eine Chance: Jetzt müssen sie „Hollstein überzeugen.“[594] Doch der geht den Männern aus dem Weg, denn er „wusste alles, was die drei ihm vorhalten wollten: Verpflichtung gegenüber deinem Staat, als ich Dich damals entdeckt habe, du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen, […], wenn jemand anderes diese Chance hätte, wir regeln alles […].“[595]

Hollstein will seine „Nerven [nicht mehr] strapazieren“[596], der „Alltag begann wieder, der Bulgarientraum war ausgeträumt […].“[597]

7. 3. 3 Basis-Interpretation

Zunächst möchte ich mich mit dem Werte- und Überzeugungssystem des Autors befassen: Erich Loest hatte insgesamt so seine Schwierigkeiten mit der DDR. Mit einem Dreijahresvisum für die BRD endet 1981, was so schön begonnen hatte. Mit Erich Loest verfügte die DDR über einen Autoren, der willens war, die sozialistischen Werte zu vertreten und der dazu noch über eine würdige DDR-Vita verfügte: Loest, im letzten Kriegsjahr[598] „als Schüler zur Wehrmacht eingezogen“[599], zweiwöchige Kriegsgefangenschaft, nach Kriegsende kurz „in der Landwirtschaft und Industrie tätig“[600], legte die „Reifeprüfung ab und begann 1946 seine journalistische[601] und schriftstellerische Laufbahn.“ 1947 Eintritt in die SED. Seine erste Buch­veröffentlichung „Jungen, die übrig blieben“ (1950) kostete ihn allerdings den Redakteurs­posten, da in ihr die sozialistischen Wertvorstellungen nicht ausreichend vertreten sind. „Jungen, die übrig blieben“ darf als autobiographischer Roman betrachtet werden, in dem „Loest den Weg des Oberschülers Walter Uhlig durch die Wirren der letzten Kriegsmonate und der Nachkriegszeit“[602] schildert. Er „stieß bei den offiziösen Literaturkritikern der »Täglichen Rundschau« auf entschiedene Ablehnung“[603]. „Den […] Tadel der »Standpunktlosigkeit« […] kompensiert er danach durch eine strikte Befolgung der ästhetischen Vorgaben des »sozialistischen Realismus«.“[604] [605] Ungleich schwerer sind die Folgen, die ihm seine Teilnahme an der Diskussion über „die notwendige »Demokratisierung der Partei und des Staates«“[606] einbringt: „Nach einem Jahr Untersuchungshaft [wird er] 1958 wegen »konterrevolutionärer Gruppenbildung« zu Vermögensentzug und siebeneinhalb Jahren Haft[607] abgeurteilt.“[608] Nach seiner Freilassung bringt er „in den Jahren 1965 bis 1975 elf Romane und über 30 Er­zählung­en zu Papier.“[609] Darunter auch Der elfte Mann . Als „»Unperson«“[610] diffamiert, schreibt Loest aber hauptsächlich „unter dem Pseudonym Hans Walldorf“[611] anspruchslose, aber erfolgreiche Kriminalromane, um sich den Lebensunterhalt zu sichern. Bezüglich Loests Werte- und Überzeugungssystem vermute ich dennoch, dass es pro Sozialismus geprägt ist. Das ergibt sich für mich zunächst schon aufgrund der Text-Tatsache, dass sich Jürgen Hollstein in Der elfte Mann am Ende gewissermaßen zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft zur Verfügung stellt und dafür seine Fußballerkarriere opfert. Und ein Opfer ist es, das formuliert Hollstein abschließend noch einmal deutlich. Der Roman wird von inneren Monologen geprägt. In solch einem Monolog überlegt Hollstein, das seine Entscheidung von seinen Eltern[612] sehr positiv aufgenommen werden wird. Er fragte sich aber, ob „die Eltern wenigstens ein bißchen hätten nachfühlen können, was es hieß, auf Trainingslehrgang und B-Länderspiel und Nationalkarriere zu verzichten?“[613] Besonders deutlich wird meine Hypothese zu Loests Überzeugungssystem dadurch unterstrichen, dass Hollstein diese Entscheidung ausdrücklich freiwillig trifft. Die Entscheidung, macht Professor Bernskohn gegenüber den Sport-Funktionären deutlich, „ist Hollsteins Sache.“[614] „Zwingen konnte ihn keiner“[615], stellt auch Trainer Archold fest.

In diesem Zusammenhang wird es Zeit, dass ich ein wenig auf Zensur zu sprechen komme: Wer in der DDR als Literat arbeiten wollte, musste sich den Kontroll­mechanismen in der Peripherie der Literaturgesellschaft beugen. Will heißen:

Die Literatur der DDR war »Planungsliteratur« (R. Darnton) par excellence. Das heißt, daß ausnahmslos alle Etappen im Leben eines Literaturwerks gelenkt und kontrolliert wurden (oder werden sollten): Entstehung, Drucklegung und Veröffentlichung, Vertrieb, Literaturkritik, endlich Lektüre und also Wirkung.[616]

Demnach dürfte Der elfte Mann eine ähnliche Überprüfung durchlaufen haben. Insbesondere deshalb, da belegt ist, dass Loest nach seiner Inhaftierung unter besonderem Augenmerk stand: „Zensurmaßnahmen [und] Kampagnen[617] gegen seine Person“[618] waren an der Tagesordnung. Doch die Auswirkungen einer etwaigen Zensur sind an dieser Stelle nicht zu klären. Es ist klar, dass sich Loest, um veröffentlichen zu können, an gewisse „Spielregeln“ halten musste. Diese Regeln wurden vom Literaturprogramm gemacht, das in der DDR eben sehr stark politisiert war. Loest wird ihnen in diesem Roman gerecht. Zwei Beispiele: Die schon bei Basans …und das Leder ist rund thematisierte Abgrenzung zum Nationalsozialismus findet auch in Der elfte Mann statt. Betrachtet man Loests Werdegang, darf man davon ausgehen, dass dies aber auch zu seinem persönlichen Überzeugungssystem[619] zu zählen ist. Deutlich wird die Un­mensch­lichkeit des nationalsozialistischen Systems von Loest herausgestellt: In einem Gespräch zwischen Archold und Bernskohn fügt Loest politisch korrekt das Beispiel einer in Kiew „aus sowjetischen Kriegsgefangenen“[620] gebildeten Fußballelf ein, die, „weil sie gegen Wehrmachtmannschaften zu siegen wagte, liquidiert“[621] wurde. Zu den Regeln des Literaturprogramms gehörte es ebenso, einen eindeutigen Standpunkt zum Sozialismus zu dokumentieren. Daran hält sich der Roman auch, indem die Erfolge des Sozialismus verkündet werden. Beispielsweise läuft über dem Dach eines Bahnhofs eine Leuchtschrift, die die neusten Nachrichten verbreitet: „MOSKAU: DIE SOWJETISCHE STAHLPRODUKTION STIEG…“[622] In der Zeitung las Hollstein „von wachsender Anerkennung seines Staates in aller Welt, von geringer gewordenen Planschulden, von Bonner Machenschaften gegen den Sportverkehr.“[623] Die wertende Darstellung bezüglich westdeutscher Kontakte gehört natürlich auch zum Plan. Anhand der Text-Tatsache, dass obige Nachrichten im Roman ausschließlich von Medien im Roman verkündet werden, vermute ich, dass sie weder die Meinung der handelnden Personen noch die des Autors widerspiegeln. Ich denke eher, dass Loest zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen hat: Er ist den Anforderungen des Literatur­programms gerecht geworden und bringt gleichzeitig damit zum Ausdruck, dass die DDR-Presse „bringt, was der Masse des Volkes dient“[624]: vor allem ideologische Klarheit.

Die handelnden Personen im Roman sind beispielsweise vielmehr bemüht, oben erwähnte Anerkennung aufzubauen. Der Sport im Roman hat die Ziele auf nationaler und internationaler Ebene noch lange nicht erreicht: Gerade der „Fußball […] als massenwirksamster Sport“[625] hinkt hinter den Erwartungen weit zurück. Kerkrade ist der Meinung, „,daß bei der Auswahl der Spieler nicht mit genügend Weitsicht vorgegangen worden ist.’ […] Man schleppte Spieler mit, die die Mitte der zwanzig überschritten hatten und sich schwerlich steigern konnten.“[626] Daher fordert er „die B-Elf als Kaderschmiede für die Nationalmannschaft […] [und das] Flügelpaar Hollstein-Artmann[627] als Zange bereits im Spiel gegen Bulgarien.“[628] Der Aufbau des Sportsystems soll also weiter vorangetrieben werden. Damit wird im Roman, wie schon in Kapitel 7. 1. 2 angemerkt, ein reales Problem beschrieben:

Zum Leidwesen vieler Politiker und Funktionäre rannte die DDR ausgerechnet in der populärsten Sportart der Weltspitze stets hinterher: Nur einmal — 1974 — schaffte die Fußball-Nationalmannschaft die Qualifikation für eine Weltmeisterschafts-Endrunde. Dabei gelang ihr sogar ein 1:0-Erfolg gegen die Mannschaft der Bundesrepublik, den Gastgeber und späteren Weltmeister.[629]

Auch die Darstellung der Wohnungsnot in Der elfte Mann trägt reale Züge: Der Berliner Genosse Hankdey, der Hollstein das Angebot für Kliethendorf unterbreitet, malt in punkto Wohnungsbau für das Jahr 2000 düstere Zukunftsaussichten: „,Wer unseren Bestand an Wohnungen durchrechnet, muß es mit der Angst bekommen: Seit fast dreißig Jahren wird von der Substanz gelebt, […].’ ,Wenn wir das Steuer nicht herumreißen’, sagte Hankdey, ,geht es uns noch fürchterlich dreckig.’“[630]

Mitte der 50er Jahre merkte man in der DDR, dass es mit dem Wohnungsbau nicht planmäßig voranging, es herrschte Wohnungsknappheit. Die Plattenbauten waren noch nicht erfunden, das stalinistische Bauprojekt gescheitert und „die neue Losung lautete: ,Besser, schneller und billiger bauen.’“[631] Nachdem die Planzahlen beim Wohnungsbau nicht erfüllt worden waren, strebte man „nun durch Industrialisierung und Typisierung eine Ökonomisierung des Bauens“[632] an. Dass diese Krise erst mit dem Wohnungsbauprogramm von 1973 beigelegt werden konnte, belegt deutlich die Aktualität des Romans.

Zwei reale Probleme werden demnach im Buch fiktiv miteinander in Verbindung gesetzt. Hollsteins linkes Bein soll der DDR außenpolitisch endlich, „unter Berücksichtigung des sich ständig verschärfenden Klassenkampfes seitens der west­deutschen Monopole“[633], zu einem Sieg über den Klassenfeind verhelfen. Hollsteins brillantes Physikerhirn soll für Millionen Menschen bessere — und für den sozialistischen Staat günstige — Wohnqualität schaffen. Nur: „Beides nebeneinander schafft keiner.“[634] Bezüglich der speziellen Textkonzeption stelle ich daher folgende Hypothese auf: Auch die DDR schafft nicht beides. Sie soll sich Hollsteins Entscheidung anschließen. Das impliziert zunächst Kritik am vorherrschenden System, Kritik an Walter Ulbricht. Namentlich wird er nicht erwähnt, doch lenkt die Geschicke des Landes ein Mann, dessen Wort „fleißig kolportiert [wird]: ,Jedermann an jedem Ort — einmal in der Woche Sport!’“[635] Mit diesem „genetischen Fingerabdruck“ ist Ulbricht identifiziert — ebenso seine Politik. (vgl. Kapitel 7. 1. 2) Dieser namenlose Sportfan sorgt dafür, „daß in keinem Land des Erdballs, gemessen an der Bevölkerungszahl und der wirtschaftlichen Kraft, so viel wissenschaftliches Potential und so viel Geld in den Sport“[636] investiert wird, obwohl beispielsweise bis „zum Jahr zweitausend […] so viel gebaut werden“[637] müsste wie nur irgend möglich. Dieser Staatsmann, „der sich in Zeitungen und Reden gern den besten Freund der Jugend und des Sports nennen ließ“[638], wird also in aller Konsequenz der Verschwendung bezichtigt, da er mit sportlichen Erfolgen hauptsächlich außenpolitische Wirkung[639] zu erzielen sucht, und die über das Wohl seiner Bevölkerung stellt. Loest stellt ihn somit eher als Feind der Jugend dar. Dass der Leser das auch wirklich so auffasst, liegt vor allem an der Darstellung von Hollsteins „Schnittstellen“ zwischen beiden Systemen. Exemplarisch möchte ich hier Archold und Kerkrade sowie Bernskohn kurz betrachten, bzw. deren dargestelltes Überzeugungssystem als Text-Tatsache nachreichen: Trainer und Funktionär sind nicht nur Repräsentanten der als kontraproduktiv dargestellten Ulbricht-Fraktion. Sie weisen zudem noch egoistische Züge auf, die Hollsteins Entscheidung für das Studium (oder für den hilfreichen Dienst an der DDR-Gesellschaft) nachdrücklich — und vor allem nachträglich — legitimieren. Kurz zur Erinnerung: Hollstein hatte sich fürs Studium und für Kliethendorf entschieden, Kerkrade holt Rat bei der Parteileitung ein und bittet Genosse Bernskohn um ein Entscheidungsgespräch, bei dem eigentlich nichts mehr zu entscheiden ist und das demnach ohne Resultatsveränderung endet. Jetzt erst zeigt sich, dass Kerkrade und Archold gar nichts an Jürgen selbst oder seiner Laufbahn liegt. Loest beschreibt ihren Aufbruch, als würden sie Hollstein richtig in die Mangel nehmen wollen:

Wütend waren sie […] auf Hollstein, sie fühlten sich beleidigt, denn sie glaubten Undank zu ernten, wo sie beispiellos Gutes gewollt hatten, und noch etwas lastete auf ihnen: Die eigene Position, ihr Einfluß, auch ihr Gehalt und die Möglichkeit, zu Ehren zu kommen, hingen davon ab, daß  so etwas, wie Hollstein es praktizierte, keineswegs Schule[640]

machen durfte. Bernskohn hingegen knüpft keinerlei persönliche Vorteile an Hollsteins Vorankommen. Er erkennt sogar, dass Hollstein etwas aufgegeben hat: „Schade war es schon, daß Hollstein nicht eines Tages im Nationaltrikot auf den Rasen lief […].“[641] Auch alle anderen positiven Werte werden Bernskohn zugeschrieben: Er ist das regulierende Element, das der Aussage des Romans entsprechend den Wert des Sports, der hier selbstverständlich nicht als Parabel eingesetzt wird, richtig deutet: „nur schätzungsweise dreißig, vierzig Prozent der Bevölkerung interessieren sich für Sport. Nur zehn, fünfzehn Prozent für Fußball. Aber jeder wohnt. Wir haben im Straßenbau, Industriebau, Schulbau aufzuholen.“[642]

Die durchweg positive Darstellung der Wissenschaft rundet die Aussage des Romans sehr deutlich ab.



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Fußnoten

[557] Sie hat die Vereinsfarben blau-gelb und ist nicht in Berlin ansässig. Mehr ist über den Verein und über den Handlungsort nicht zu erfahren.

[558] Loest, Erich: Der elfte Mann, Mitteldeutscher Verlag, Halle, Leipzig, 1969, S. 117.

[559] Ebd., S. 28.

[560] Ebd., S. 90.

[561] Ebd.

[562] Ebd., S. 29.

[563] Ebd., S. 30.

[564] Ebd., S. 25.

[565] Ebd.

[566] Gemeint ist hier der Deutsche Fußballverband.

[567] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 7.

[568] Ebd., S. 9.

[569] Ebd.

[570] Ebd., S. 10.

[571] Ebd., S. 27.

[572] Ebd.

[573] Ebd., S. 5.

[574] Abweichungen geben Trainer Archold entscheidende Aufschlüsse über die Fitness der Spieler. „Am schwarzen Brett hing eine Karte: HEUTE WIEGEN. Die Stunde der Wahrheit.“ [Ebd., S. 5/6 (Hervorhebungen im Original)].

[575] Ebd., S. 6.

[576] Ebd., S. 10.

[577] Ebd., S. 36.

[578] Ebd.

[579] Ebd.

[580] Ebd.

[581] Ebd., S. 66f.

[582] Ebd., S. 186.

[583] Ebd., S. 187.

[584] Ebd., S. 219.

[585] Ebd., S. 217.

[586] Hier wird das Institut für Baustoffentwicklung gerade erstellt.

[587] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 217.

[588] Stan Matthews ist ein bekannter britischer Fußballprofi.

[589] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 218.

[590] Entscheidet er sich für die Nationalreserve und Bulgarien, könnte er die Voraussetzungen für die wissenschaftliche Arbeit nicht erfüllen: „,Am Donnerstag beginnt ein Lehrgang für Rechentechnik, daran müßten Sie teilnehmen. […]’ ,Am Mittwoch’, erwiderte Hollstein schwunglos, ,soll ich zu einem Fußballehrgang fahren.’“ (Ebd., S. 217).

[591] Ebd., S. 222.

[592] Ebd., S. 224 (Hervorhebungen im Original).

[593] Ebd., S. 238.

[594] Ebd. (Hervorhebung im Original).

[595] Ebd., S. 244.

[596] Ebd.

[597] Ebd., S. 245.

[598] Der 1926 geborene „Sohn eines »bürgerlich-nationalen« Eisenwarenhändlers aus der sächsischen Kleinstadt Mittweida wächst »konform« in die nationalsozialistische Herrschaft hinein. Mit zehn Jahren wird er Hitlerjunge, später Jungvolkführer und schließlich Soldat, der als »Werwolf« […] gegen die Alliierten kämpft. [Lutz, Bernhard (Hg.): Metzler-Autoren-Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar, 1994, S. 565].

[599] Moser, Dietz-Rüdiger (Hg./1993): Neues Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945, S. 424.

[600] Lutz, Bernhard (Hg./1994): Metzler-Autoren-Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 565.

[601] Erst freie Mitarbeit, dann Volontariat und danach Kreisredakteur der Leipziger Volkszeitung.

[602] Moser, Dietz-Rüdiger (Hg./1993): Neues Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945, S. 425.

[603] Ebd.

[604] Lutz, Bernhard (Hg./1994): Metzler-Autoren-Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 565.

[605] Mitte der 50er Jahre studiert Loest am Johannes R. Becher-Institut für Literatur in Leipzig.

[606] Ebd.

[607] Bis September 1964 ist er in der Strafvollzugsanstalt Bautzen II zeitweilig in Einzelhaft und bei striktem Schreibverbot inhaftiert.

[608] Moser, Dietz-Rüdiger (Hg./1993): Neues Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945, S. 424.

[609] Ebd.

[610] Lutz, Bernhard (Hg./1994): Metzler-Autoren-Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, S. 565.

[611] Moser, Dietz-Rüdiger (Hg./1993): Neues Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945, S. 424.

[612] Besonders der Vater, Schulleiter und Kreistagsabgeordneter spielt für Hollstein eine wichtige Rolle. Jürgen beschreibt ihn als „gewieften Pädagogen“ (S. 58), dem er nichts vormachen kann.

[613] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 242 (Hervorhebungen im Original).

[614] Ebd., S. 230.

[615] Ebd.

[616] Emmerich, Wolfgang (1996): Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 48 (Hervorhebungen im Original)

[617] Die Neuauflage seines Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ (1978) wurde von den Behörden ungebührlich hinausgezögert. Offiziell wurden dafür oft Erklärungen wie beispielsweise „Papierkontingentierung“ (vgl. Emmerich) herangezogen.

[618] Moser, Dietz-Rüdiger (Hg./1993): Neues Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945, S. 424.

[619] Die Ablehnung des Nationalsozialismus spielt insgesamt in den Werken Loests eine große Rolle. Das eigene Erleben, den Kriegsalltag und die Identitäts- und Rollenkonflikte seiner Generation im nationalsozialistischen Machtstaat behandelte Loest auch in „Der Abhang“ (1968), in kleineren autobiographischen Skizzen wie „Kleiner Krieg“, „Pistole mit sechzehn“, in den Erzählungen „Sliwowitz und Angst“ (1965) oder auch in den Romanen „Schattenboxen“ (1973) und „Zwiebelmuster“ (1985).

[620] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 236.

[621] Ebd.

[622] Ebd., S. 74 (Hervorhebung im Original).

[623] Ebd., S. 99.

[624] Journalistisches Handbuch der DDR, Leipzig, 1960, S. 193; zit. n.: Smith, Birgit: Die Presse in der DDR, gefunden im Internet: www.lancs.ac.uk (Lancaster University, UK).

[625] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 150.

[626] Ebd., S. 151.

[627] Artmann ist ein Mannschaftskamerad von Hollstein.

[628] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 151.

[629] Quelle: Deutsches Historisches Museum; gefunden im Internet:

http://www.dhm.de/ausstellungen/bildzeug/qtvr/DHM/n/BuZKopie/raum_38.04.htm.

[630] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 219.

[631] Quelle: http://www.uni-koeln.de/pi/i/1998.110.htm.

[632] Quelle: http://www.uni-marburg.de/geographie/virtual/deutsch/brd/module/m3/u7.htm

[633] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 150.

[634] Ebd., S. 218.

[635] Ebd., S. 147.

[636] Ebd.

[637] Ebd., S. 218.

[638] Ebd., S. 147.

[639] „Auch nach den naturgemäß von Ost-West-Duellen gekennzeichneten gesamtdeutschen  Olympia-Ausscheidungen 1956 bis 1964 lautete für ein Jahrzehnt die Hauptforderung ,Schlagt die BRD!’“ [Knecht, Willi Ph. (1978): Das Medaillenkollektiv, Fakten Dokumente Kommentare zum Sport in der DDR; S. 118]

[640] Loest, Erich (1969): Der elfte Mann, S. 245.

[641] Ebd., S. 220.

[642] Ebd., S. 238.



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