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8. 3 Joe McGinniss: Das Wunder von Castel di Sangro

8. 3. 1 Basis-Analyse

Der amerikanische Schriftsteller Joe McGinniss, ein begeisterter Fußballfan, reist in das kleine italienische Dorf Castel di Sangro, um das dort ansässige Fußballteam während dessen erster Zweitliga-Saison zu begleiten. Angezogen durch den sensationellen Aufstieg des Dorfklubs aus den Niederungen des Fußballs bis in die zweithöchste Liga, möchte er ein Buch über den Verlauf der Saison schreiben. In Castel di Sangro wird die Anwesenheit eines amerikanischen Buchautors als kleine Sensation gewertet und sowohl die Spieler als auch der Trainer Osvaldo Jaconi nehmen McGinniss sehr herzlich auf. Auch der Besitzer des Vereins Pietro Rezza, ein reicher Bauunternehmer, und der Klubpräsident Gabriele Gravina, der Ehemann von Rezzas Nichte, bemühen sich zunächst  sehr um den Gast. Diese Umstände täuschen den Schriftsteller jedoch nicht darüber hinweg, dass es ein paar Schwierigkeiten im Verein gibt. Es wird kein Geld in neue Spieler investiert und auch der notwendige Ausbau des Stadions wird nicht vorangetrieben. Die Mannschaft muss ihre Heimspiele deshalb  in der etliche Kilometer entfernten Stadt Chieti austragen.

Für den sportlichen Erfolg, das heißt in diesem Fall den Nichtabstieg, ist Trainer Jaconi verantwortlich. Er versucht dieses Ziel zu erreichen, indem er die Mannschaft mit einer sehr defensiven Taktik spielen lässt. Diese bringt auch einen Sieg im ersten Saisonspiel, doch es folgt eine Niederlageserie, die das Team in der Tabelle weit zurückwirft. McGinniss identifiziert sich mittlerweile so stark mit der Mannschaft, dass er ihr helfen möchte. Er entwirft eigene Taktiken und Aufstellungen, die er Jaconi vorschlägt. Der Trainer lehnt diese Vorschläge freundlich und etwas belustigt ab.

Um seinem Vereinspräsidenten einen Gefallen zu erweisen, treibt Rezza den Stadionausbau schließlich doch voran. Die Realisierung des Projektes soll Gravina den Einstieg in die Politik erleichtern. Auch die Mannschaft soll mit dem ghanaischen Nationalspieler Joseph Addo verstärkt werden, doch Trainer Jaconi  verhindert dies mit der Begründung, der Spieler passe nicht in sein System. Der Vorstand, die Mannschaft und McGinniss sind verärgert, weil der Wechsel nicht zustande gekommen ist. Die folgenden Spiele verliert die Mannschaft durch falsche Taktik, eigenes Unvermögen und zweifelhafte Schiedsrichterentscheidungen. Zur Einweihung des umgebauten Stadions findet ein Freundschaftsspiel statt, bei dem eine Neuverpflichtung des Vereins vorgestellt werden soll. Es handelt sich hierbei allerdings nur um einen Schauspieler und die Veranstaltung wird zu einer Farce. Anstatt der erhofften Publicity, erntet der Initiator Gravina lediglich negative Schlagzeilen. Castel di Sangro steht mittlerweile auf einem Abstiegsplatz, doch die sportliche Situation rückt in den Hintergrund, als zwei Spieler des Teams bei einem Autounfall sterben. Der Verlust der Mannschaftskameraden lässt das Team zusammenrücken und als Konsequenz folgt eine Reihe von Siegen. Völlig überraschend wird einige Wochen später der Spieler Pierluigi Prete wegen des Verdachts, Mitglied eines internationalen Drogenrings zu sein, verhaftet. Auch gegen Gravina wird in derselben Sache ermittelt. Vereinbesitzer Rezza lässt daraufhin seine Beziehungen spielen und Prete wird freigelassen. Vor den entscheidenden Spielen gegen den Abstieg versucht McGinniss erneut, den Trainer von seiner erfolglosen Taktik abzubringen und es kommt zu Streitereien. Jaconi hält weiter an seiner Defensiv-Taktik fest und im vorletzten Saisonspiel sichert Castel di Sangro den Klassenerhalt. Aufgrund einer Bestechung verliert die Mannschaft dann absichtlich das letzte Saisonspiel. Als McGinniss dies erfährt, reist er tief enttäuscht von Spielern und Offiziellen nach Hause.

8. 3. 2 Einordnung in einen Aufbaumuster-Typ

Kasus II ist der Aufbaumuster-Typ, dem sich das Buch Das Wunder von Castel di Sangro zuordnen lässt. Die beiden Protagonisten sind der Autor selbst und Osvaldo Jaconi, der Trainer des Fußballteams von Castel di Sangro. Den Aufsteiger bzw. Neuling verkörpert McGinniss. Er hat erst vor zwei Jahren, anlässlich der WM in seinem Heimatland, die Leidenschaft für den Fußball entdeckt. „Ich wachte einfach eines Morgens im späten Frühjahr 1994 auf und war hellauf begeistert, daß die USA Gastgeber für die Weltmeisterschaft sein würden.“[701] Der Fußball hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine Bedeutung für McGinniss und er ist auch nicht mit den Regeln und der Historie vertraut. Er bemüht sich, diesen Zustand schnell zu ändern und macht sich auf die Suche nach Informationen.

„Um in jenen Prä-Internet-Tagen meinen brennenden Wissensdurst zu stillen, unternahm ich Expeditionen in obskure, abgelegene Buchhandlungen und kehrte an erfolgreichen Tagen mit Büchern zurück, die nicht nur statistische Angaben zu allen Weltmeisterschaftbegegnungen seit dem ersten Turnier von 1930 enthielten, sondern auch Beschreibungen und Analysen aller 24 Nationalmannschaften, die in den USA antreten würden.“[702]

Er verfolgt zwei Turnierspiele im Stadion und ist begeistert von der Atmosphäre, die rund um den Fußball herrscht. Im selben Jahr macht McGinniss während eines Schweiz-Urlaubes einen Abstecher nach Mailand, um sich dort ein Spiel der ersten italienischen Liga anzusehen. Er bekommt einen Eindruck von „der theatralischen Hysterie, die dieser Sport noch in den hintersten Winkel des Landes trägt.“[703]  Als McGinniss schließlich von dem Aufstieg einer Dorfmannschaft bis in die zweithöchste Liga Italiens erfährt, steht für den Neuling in der Fußballszene fest, dass er diesen Verein auf seinem Weg begleiten und die Geschehnisse während der Saison in Buchform festhalten möchte.

Die in der Sportszene etablierte Persönlichkeit wird durch Osvaldo Jaconi verkörpert. Als Aktiver spielte er fünfzehn Jahre in verschiedenen Ligen Italiens. Schließlich „hatte er mit 34 die Stiefel an den Nagel gehängt und eine Trainerkarriere in Angriff genommen.“[704] In dieser Funktion arbeitet er seit zehn Jahren und hat dabei Vereine im ganzen Land betreut. „Beruflich kannte er nichts anderes als den Fußball.“[705] Er führte Castel di Sangro bis in die italienische Seria B, was sowohl für ihn, als auch für den Verein den bisher größten sportlichen Erfolg bedeutete. Die Menschen haben „ein fast kindliches Vertrauen in Jaconis […] Fähigkeiten gefasst“[706] und trauen ihm auch zu, die Mannschaft vor dem Abstieg aus der neuen Liga zu bewahren.

McGinniss und Jaconi sind beide in das Sportsystem integriert. Sie gehören, jeder auf seine Weise, zum Fußballteam von Castel di Sangro. McGinniss begleitet das Team als Fan, Freund der Spieler und Chronist. Jaconi zeichnet für den sportlichen Erfolg verantwortlich. Beide werden als gleichberechtigt dargestellt. Jaconis Position im Team ist unbestritten, aber auch McGinniss wird nicht als ein notwendiges Übel oder gar als eine Last angesehen. Diese Tatsache wird gleich beim ersten Treffen mit Trainer und Mannschaft verdeutlicht. McGinniss beschreibt seine Aufnahme in das Team durch Jaconi so:

„Er versicherte mir, dass er meine Anwesenheit als ein Geschenk für seine Mannschaft und nicht als Last für sich betrachten würde; daß ich mich völlig frei bewegen und ihn oder die Spieler jederzeit sprechen könne, […] ich wäre in seinem Büro, in seiner Wohnung […] und in der Mannschaftskabine willkommen. Außerdem habe er für die Mahlzeiten, die die unverheirateten Spieler gemeinsam im Marcella’s [So lautet der Name des Restaurants, in dem die Mannschaft isst.] einnahmen, am Kopf des Tisches den Platz zu seiner Seite für mich reserviert.“[707] 

Auch die Spieler akzeptieren den Gast aus Amerika und betrachten ihn als ein Mitglied des Teams. Davide Cei, der Mannschaftskapitän, bringt dies stellvertretend für seine Kollegen zum Ausdruck. „Er erklärte […], daß er mich im Namen der Mannschaft willkommen heiße und ich mich gleich als einer der ihren fühlen sollte.“[708]

Es stellt sich schnell heraus, dass Trainer Jaconi seine ganz persönliche Auffassung vom Fußball und von der Führung einer Mannschaft hat. In seinem Normsystem hat eine Regel oberste Priorität: „Nur was er sagte, zählte. Er war es, der Bescheid wusste, sich auskannte und sagte, wo es langging.“[709] Diese Regel gilt ganz besonders in Bezug auf seine Spieltaktik. Für Jaconi gibt es nur ein richtiges System: die strikte Defensive. Er hat mit dieser „Mauertaktik“[710] in den unteren Ligen Erfolg gehabt und lässt auch jetzt in jedem Spiel einen „Verteidigungswall“[711] um das eigene Tor errichten. Auch was die Eigenschaften seiner Spieler anbetrifft, hat er eigene Vorstellungen. Er bevorzugt charakterstarke Spieler, die auf dem Spielfeld „arbeiten“, genauso wie er es als Aktiver getan hat. Die fußballerische Begabung spielt für ihn eine absolut untergeordnete Rolle. „Tatsächlich hielt Jaconi Talent für die unwichtigste aller erforderlichen Eigenschaften.“[712]

Für McGinniss bestimmen andere Normen den Fußball. Seitdem er sein erstes Spiel gesehen hat, steht für ihn außer Frage, dass Emotionen eine große und wichtige Rolle spielen. „Was die Welt, die ich kannte, für immer verändert hatte, war nicht das Ergebnis, sondern das grandiose Spektakel des Ereignisses an sich: die Leidenschaft auf den Rängen und auf dem Spielfeld.“[713] McGinniss vertritt die Meinung, dass man im Fußball nur erfolgreich sein kann, wenn man kreativ und flexibel ist. Dies gilt sowohl für die Spieler, als auch für den Trainer. „Weniger feste Struktur, mehr Freiheit, das war die Losung.“[714] Genau deshalb ist McGinniss der Ansicht, dass ein Trainer bei der Aufstellung und der Wahl seiner Taktik variabel sein muss.  

Ein guter Fußballer muss nach seinem Dafürhalten außer Einsatzwillen und Charakterstärke unbedingt Talent mitbringen. Die Mannschaft von Castel di Sangro hat aus seiner Sicht viel zu wenige begabte Spieler. „»Eine Schande! Keiner ist besonders talentiert, mit Ausnahme von Lotti vielleicht.«“[715] Der Torwart des Teams ist einer der wenigen, die McGinniss’ Ansprüchen an einen guten Fußballer genügen. Der Teamgeist spielt in McGinniss’ Normsystem ebenfalls eine große Rolle. Aufrichtigkeit und Menschlichkeit im Umgang miteinander sind für ihn von großer Bedeutung. „Ich und die Mannschaft waren nun die ganze Woche über eins, und wie lächerlich und erbärmlich das auch klingen mag, diese Eintracht war es, die meinem Leben Leidenschaft und Sinn verlieh.“[716]

Typisch für den Aufbaumuster-Typ Kasus II ist, dass sich die beiden Protagonisten aufgrund ihrer unterschiedlichen Auffassungen vom Fußball immer weiter voneinander entfernen. Der Trainer hält trotz zahlreicher Niederlagen an seiner Defensivtaktik fest. „Jaconi nahm natürlich keine Änderung vor.“[717]  McGinniss macht diese Tatsache immer wütender, weil er den Klassenerhalt der Mannschaft gefährdet sieht. Während er die Entscheidungen des Trainers zu Saisonbeginn noch relativ unkritisch betrachtet hat, äußert sich jetzt unverhohlener Ärger: „Nimm die Spieler, die er aufgestellt hat, plus Jaconi, und du hast die wahrscheinlich dumpfsten Arbeitstiere im gesamtem Profifußball beisammen.“[718] McGinniss kann die Taktik des Trainers immer weniger nachvollziehen, und dieser reagiert im Gegenzug immer dünnhäutiger auf seine Anregungen und Verbesserungsvorschläge. Während Jaconi sich die Vorschläge des Gastes anfangs immer in Ruhe angehört hat und ihm dann seine Meinung erläutert hat, wimmelt er ihn jetzt ungehalten ab: „»Mit welchem Recht willst du mir erzählen, wie ich meinen Job zu tun habe? […] Das lasse ich mir nicht bieten!«“[719] 

McGinniss betrachtet seine kreative Offensivtaktik bis zum Schluss als das bessere System. Er ist keinesfalls bereit, sich mit Jaconis Spielweise anzufreunden. Selbst nach gewonnen Spielen hat er etwas auszusetzen: „Mit diesem Sieg (der mit meiner Aufstellung und Taktik wesentlich leichter erzielt worden wäre, was ich aber nicht mit Jaconi zu diskutieren gedachte) rückten wir vier Plätze vor.“[720] Auch die Mannschaft hält seine Vorstellungen von Taktik und Aufstellung für durchaus erfolgversprechend. Der Spieler Roberto Alberti teilt McGinniss dies auf indirekte Art und Weise mit. In einem Gespräch betont er, „daß es nicht dank Jaconi, sondern trotz Jaconi wäre, sollte die Mannschaft la salvezza [den Klassenerhalt] erreichen.“[721] McGinniss fühlt sich in seinem Denken bestätigt.

Der Weg, den Jaconi verfolgt, wird ebenfalls als richtig dargestellt. Er bleibt seiner defensiven Aufstellung treu und der sportliche Erfolg gibt  ihm Recht. Der Trainer verhindert den Abstieg seiner Mannschaft aus der zweiten Liga und erfüllt damit die Vorgaben des Vereinsvorstandes.„Außerdem gab Gravina bekannt, dass Jaconi seinen Vertrag um zwei Jahre verlängert hatte.“[722] Der Trainer darf also weiter in der zweithöchsten Liga arbeiten und hat damit sein persönliches Ziel erreicht.

Ebenfalls prägend für den Aufbaumuster-Typ Kasus II ist, dass es zur Trennung der beiden Protagonisten kommt, als sie sich zu ihren Wertvorstellungen bekennen. Nach einem weiteren Streit über das Thema Fußball fordert Jaconi den Gast auf, sich nicht mehr in die Belange der Mannschaft einzumischen. „»Kümmer dich um deinen eigenen Kram!«“[723]  Auch McGinniss ist nicht mehr bereit, sich in ermüdende Diskussionen zu verstricken, die aus seiner Sicht zu keinem Ergebnis führen. Er ist „konsterniert“[724] und hat „nicht mehr die Kraft“[725] für weitere Auseinandersetzungen.

Zu einer zweiten direkten Begegnung der beiden Protagonisten, nachdem sich ihre Wege getrennt haben, kommt es nicht. Die Romanhandlung stellt in diesem Punkt eine Variante des Aufbaumuster-Typs Kasus II dar. McGinniss hinterlässt dem Coach vor seiner Abreise lediglich einen Brief. In diesem dankt er dem Trainer zwar für die Aufnahme in das Team, attestiert ihm aber gleichzeitig, dass er „Schande“[726] über seinen „Berufsstand und den ganzen Fußball gebracht“[727] hat.

8. 3. 3 Basis-Interpretation

Die Konzeption, die diesem „Stück fußballerischer Dokumentationsliteratur“[728] zugrunde liegt, beinhaltet die Absicht, dem Rezipienten einen Blick hinter die Kulissen des Profifußballs in Italien zu gewähren. Die positiven und negativen Seiten sollen den Lesern näher gebracht werden. Das Buch vermittelt, welchen enorm hohen Stellenwert der Fußball in Italien genießt und wie viel er den Menschen bedeutet. So beschreibt McGinniss das Mailänder San Siro Stadion als „einen vielstöckigen Tempel, in dem dem Fußball und seiner zentralen Bedeutung für die italienische Gesellschaft gehuldigt wird.“[729] Die Menschen stehen bedingungslos hinter ihrer Mannschaft, und der Autor beschreibt auch den teilweise daraus resultierenden Fanatismus: „In vielen italienischen Familien ist es Brauch, dem Neugeborenen bei der Taufzeremonie nicht nur seinen Namen zu geben, sondern auch festzulegen, welchen Fußballverein er zeitlebens unterstützen wird.“[730]

 Es wird gezeigt, dass der Fußball selbst in einem Dorf wie Castel di Sangro das Leben der Menschen bestimmt und sie vereint. Beispielsweise rückt alles andere in den Hintergrund, als die Entscheidung über den Klassenerhalt des Teams ansteht. Vor dem Spiel sind die Menschen von einer Sorge getrieben, als würde es um ihre Existenz gehen:

„Ich begegnete vielen Bekannten. Den meisten zitterten vor Nervosität die Hände. Ein mir unbekannter alter Mann sprach mich an. In einer Mischung aus Italienisch und dem hiesigen Dialekt erklärte er mir gestenreich, daß er seit einem halben Jahrhundert nicht mehr solche Angst ausgestanden hätte. Seit dem Krieg nicht mehr, sagte er, wenn er die amerikanischen Flugzeuge hatte kommen hören und gewusst hatte, daß gleich wieder die todbringenden Bomben fallen würden und nirgendwo ein sicherer Platz war.“[731]   

Nachdem die Mannschaft das Spiel gewonnen hat und der Klassenerhalt gesichert ist, wird das wie die Befeiung von einer schweren Last beschrieben: „Es war vorbei. Und come in un film, wie nach einem sehr, sehr langen Film ließ der Schluß alle, denen es vergönnt gewesen war, von Anfang an dabei zu sein, vor Freude und Erleichterung in Tränen ausbrechen.“[732] Es wird vermittelt, welche Leidenschaft, Begeisterung und Identifikationsbereitschaft der Fußball bei den Menschen entfacht.

Das Buch beschreibt aber nicht nur den hohen Stellenwert des Fußballs und den Bann, in den er die Bevölkerung zieht. Auch die negativen Erscheinungen, von denen der Profifußball nach den Beschreibungen des Verfassers ebenfalls geprägt ist, werden gezeigt. So wird beispielsweise der Rassismus im Sport thematisiert. Auf der Suche nach Verstärkungen stößt Castel di Sangro auf den ghanaischen Fußballnationalspieler Joseph Addo. Vorstand und Mannschaft sind der Überzeugung, dass der Spieler dem Verein weiterhelfen kann, doch eine Verpflichtung des Spielers scheitert am Veto des Trainers. Dieser liefert dafür die fadenscheinige Erklärung, dass ein zu hoher Aufwand nötig gewesen wäre, um den Ghanaer in das Spielsystem der Mannschaft zu integrieren. Jaconi erklärt, „daß es zu lange gedauert hätte, Addo dazu zu bringen, alles so zu machen, wie er […] das wolle.“[733] Niemand glaubt dem Trainer, „der noch nie einen schwarzen Spieler in einer seiner Mannschaften gehabt hatte, und […] auch keinen wollte.“[734] McGinniss spricht schließlich als einziger aus, warum Jaconi den Spieler nicht im Team haben will: „»Es gibt nur einen Grund: Rassismus.«“[735]

Ein weiterer Gesichtspunkt, der durch das Buch verdeutlicht werden soll, ist, dass die Menschlichkeit im Profifußball häufig zu kurz kommt. Die Spieler sind zu einer Ware geworden, die jederzeit austauschbar ist und nur noch der Zweckerfüllung dient. In den Augen von Trainer Jaconi sind die Profis „nur dazu da, ihren Zweck zu erfüllen und eine Saison zu halten.“[736]  Wenn sie dieser Anforderung nicht standhalten, werden sie aussortiert. Als sich der Spieler Luca D’Angelo den Kiefer bricht und dadurch dem Team einige Spiele nicht zur Verfügung steht, bezeichnet ihn Jaconi als Simulanten. Er wirft dem Spieler vor, sich nicht in den Dienst des Vereins zu stellen und nimmt ihn aus dem Team. Der Trainer argumentiert, „wenn D’Angelo Schiß hätte, einen Männersport zu betreiben, dann würde ihn auch niemand zwingen. Er könnte den Rest der Saison auf der Bank oder der Tribüne verbringen.“[737]

Es gehört ebenfalls zum Konzept des Buches, aufzuzeigen , dass der Fußball mehr und mehr von finanziellen Interessen bestimmt wird. Um dies zu verdeutlichen wird beschrieben, dass der Klubvorstand eine Zahlung des Fußballverbandes in Höhe von acht Milliarden Lire veruntreut. Anstatt das Geld in eine der Mannschaft versprochene Aufstiegsprämie, neue Spieler und den Stadionausbau zu investieren, wird es in dunkle Kanäle geleitet. Der Vereinsbesitzer Rezza erklärt McGinniss das Verschwinden der Zahlung folgendermaßen: „»Tun sie so, als gäbe es sie gar nicht. Sie ist für verschiedene andere Dinge verwandt worden, die für sie nicht von Interesse sind, und steht nicht mehr für den Ankauf neuer Spieler zur Verfügung.«“[738] Es wird deutlich gemacht, dass im heutigen Profigeschäft nicht nur der sportliche Erfolg für die Vereinsoberen von Wichtigkeit ist, auch die eigenen finanziellen Interessen gilt es zu wahren.

Bei der dem Text zugrunde liegenden Literaturauffassung steht im Mittelpunkt, dass der Schriftsteller mit seinen Büchern ein Abbild der Realität schaffen möchte. Themen, die im Blickpunkt der Gesellschaft stehen, werden mittels der Literatur einer Reflektion unterzogen. Da der Fußball, wie der gesamte Sport, im Interesse der Öffentlichkeit einen immer größeren Stellenwert einnimmt, gehört er zweifellos zu diesen Themen. Der Autor und Pulitzer-Preisträger Joe McGinniss hat bereits mehrere Bücher verfasst, die sich mit dem jeweils aktuellen Zeitgeschehen befassen.[739] Der Schriftsteller hat es sich in diesem Fall zur Aufgabe gemacht, eine möglichst authentische Beschreibung der Verhältnisse im Profifußball zu liefern. Da McGinniss keinerlei Bestimmungen unterworfen ist, wie er das Thema Fußball zu besprechen hat, schreibt er sowohl über die positiven, als auch die negativen Seiten. Er beschränkt sich keinesfalls nur auf die Darstellung der Begeisterung rund um den Fußball und andere positive Begebenheiten. Im Buch soll die ganze, ungeschönte Geschichte erzählt werden. Ein Beleg dafür findet sich am Ende des Buches. Die Mannschaft von Castel di Sangro hat den Klassenerhalt gesichert und der Weg für ein Happy End ist bereitet. Es steht lediglich noch das letzte, für den Verein unbedeutende, Spiel an. Der Klub lässt sich allerdings im Vorfeld des Spiels von der gegnerischen Mannschaft bestechen und verliert absichtlich. Durch den erkauften Sieg steigt das Team aus Bari in die erste italienische Liga auf. Als Joe McGinniss davon erfährt, ist er entsetzt und enttäuscht über das Verhalten der Spieler und des Vereins. Alle Rechtfertigungsversuche und Erklärungen von Mannschaftsmitgliedern bringen ihn nicht von seiner Meinung ab: „»Aber es ist nicht richtig.«“[740] Für McGinniss steht außer Frage, dass er das verschobene Spiel in seinem Werk erwähnen wird: „Der Sonntag war beschämend und abstoßend und ein Verrat an allem, woran ich glaube. In meinem Buch werde ich jedenfalls die Wahrheit schreiben.“[741] Selbst die Androhung eines Rechtsstreites und die Einschüchterungsversuche der Vereinspitze erzielen keine Wirkung: „Sollten Sie in Ihrem Buch irgend etwas […] schreiben, darüber, daß mit dem Bari-Spiel irgend etwas nicht in Ordnung wäre, dann wird das Ihnen so leid tun, daß sie nie wieder etwas schreiben möchten.“[742] Wie das Buch beweist, hat sich McGinniss von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen. Diese Literaturauffassung wird auch in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung gewürdigt, „weil ,die Literatur’ es im Unterschied zum Fußball ,einmal wieder mit der Wahrheit hält’.“[743]

Es gibt einen weiteren Hinweis darauf, dass McGinniss großen Wert darauf legt, Ereignisse umfassend, ungeschönt und wahrheitsgetreu zu beschreiben. Bevor er seine Recherchen für Das Wunder von Castel di Sangro begann, hatte er das mit einer Million Dollar dotierte Angebot vorliegen, ein Buch über den Mordprozess gegen den US-Footballstar O.J. Simpson[744] zu schreiben. Als Simpson jedoch wider Erwarten freigesprochen wurde und Zweifel am korrekten Ablauf des Prozesses aufkamen, lehnte McGinniss das Angebot ab[745].     

Die Werte, die das Überzeugungssystem des Autors prägen, kommen im Buch immer wieder deutlich zum Vorschein. Er schätzt Bescheidenheit und Freundlichkeit. Dies ist einer der Gründe, warum ihm die Spieler von Castel di Sangro so sympathisch sind. Im Gegensatz zu anderen Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, zeigen sie keinerlei Allüren. Dies wird durch das Benehmen der Spieler während der Rückreise von einem gewonnen Spiel deutlich:

„Jeder freute sich still für sich selbst, nicht weil sich die Freude in Grenzen hielt, sondern weil sich jeder bewußt war, daß es vielleicht Mitreisende gab, denen sie gänzlich unbekannt waren, die sich nicht für sie interessierten und sich womöglich durch eine laut feiernde Gruppe belästigt fühlen konnten.“[746]  

McGinniss ist tief beeindruckt von dem niveauvollen Auftreten und weiß es richtig einzuordnen: „Ein derart gesittetes Benehmen ist meines Wissens bei amerikanischen Mannschaften nicht unbedingt die Regel.“[747]

Wie wichtig dem Schriftsteller ein korrektes Auftreten gegenüber den Mitmenschen ist, wird auch durch seine Abneigung gegen Trainer Jaconis Umgang mit den Spielern deutlich. Seine „Hetztiraden“[748] bezeichnet er als „ekelhaft herablassend und unverblümt beleidigend“[749].

Auch die Bereitschaft für andere Leute da zu sein und ihnen zu helfen ist für den Autor sehr wichtig. Dies wird durch den Text immer wieder belegt. Bei einem ausverkauften Auswärtsspiel steht der kleine Sohn des Spielers Roberto Alberti aufgrund eines Missverständnisses plötzlich ohne Eintrittskarte da. McGinniss zögert keinen Moment, gibt dem Jungen seine Karte und verzichtet darauf das Spiel zu sehen. „Dem Jungen dämmerte gerade erst, daß es da ein Problem geben könnte, als ich ihm meine Karte in die Hand drückte und in der Menge verschwand. Was soll ich groß sagen?“[750]

Ein anderes Mal leistet McGinniss dem Spieler Antonello Altamura, dessen Frau mit Depressionen in einer Klinik liegt, Beistand. „Ich versuchte ihn zu trösten. Ich sagte, ich sei sicher, daß es ihr gutginge, obwohl ich nur eine vage Vorstellung hatte, wie ernst ihre Krankheit war.[…] Ich murmelte beruhigend auf ihn ein.“[751]

In dieser Passage wird ein weiterer Punkt deutlich, der das Überzeugungssystem des Autors prägt. Trotz aller Begeisterung bleibt der Fußball für ihn nur ein Spiel. Seine Bedeutung verblasst vor den Sorgen und Bedürfnissen seiner Mitmenschen. „Mir war klarer denn je, daß die sonntäglichen neunzig Minuten Fußball eine immer unbedeutendere Rolle in meinem Castel-di-Sangro-Abenteuer spielten.“[752]

Das Buch zeigt aber auch auf, welche Werte der Autor für nicht erstrebenswert hält. Zu Beginn seines Aufenthaltes in Castel di Sangro hatte McGinniss „fälschlicherweise angenommen, daß Offenheit und Herzlichkeit jedes Kalkül ausschließen würden.“[753] Doch als er die Verhältnisse näher kennen lernt, muss er feststellen, dass im Umfeld des Vereins auch so verwerfliche Eigenschaften wie Unehrlichkeit zu finden sind. So hat beispielsweise der Vereinsvorstand die Spieler um die Aufstiegsprämie geprellt und vertröstet sie mit leeren Versprechungen.

„Daß Gravina diese Prämie, eine lukrative Standardklausel in allen Spielerverträgen, immer noch zurückhielt, obwohl die Società ihre eigene Prämie von fünf Millionen Dollar längst erhalten hatte, machte ihn bei der Mannschaft bestimmt nicht beliebter.“[754]

McGinniss verurteilt diese Unehrlichkeit. Er kommt zu dem Schluss, dass die Vereinsspitze in erster Linie Geschäftemacherei im Sinn hat und  für die Spieler „während der ganzen Saison weniger als nichts“[755] tut. Zum Ende der Handlung wird klar, dass solche Bestandteile des italienischen Profifußballs wie Korruption auch vor dem beschaulichen Dorfverein Castel di Sangro nicht Halt machen. Der Schriftsteller verurteilt Akte der Bestechlichkeit zutiefst und sein Überzeugungssystem wird erschüttert, als er erfährt, dass seine liebgewonnen Kicker ebenfalls in solche Vorgänge verstrickt sind. Jeglicher Respekt vor den bestechlichen Spielern verschwindet und macht der Verachtung Platz: „»Ihr aber seid durch die Bank genau solche Gauner wie Rezza und Gravina.«“[756]  Es ist für den Leser klar erkennbar, wie sehr dem Autoren dieser Verstoß gegen die Gesetze des Sports verhasst ist und seinen positiven Gesamteindruck von den Mannschaftsmitgliedern stark beeinträchtigt. „Vor 60.000 Zuschauern würden sie morgen wesentlich höhere Werte verkaufen als meine Achtung vor ihnen, dennoch fühlte ich mich persönlich zutiefst verraten.“[757] McGinniss gibt damit klar zu verstehen, dass Werte wie Fairness und Aufrichtigkeit, die aus seiner Sicht den Fußball mitprägen, durch ein solches Verhalten „mit Füßen getreten“ werden. Er ist nicht bereit, derartige Machenschaften zu tolerieren und zeigt dies durch seine Abwendung von den Spielern und Offiziellen des Vereins.



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Fußnoten

[701] McGinniss, Joe: Das Wunder von Castel di Sangro. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, S. 24.

[702] Ebd.

[703] Ebd., S. 29.

[704] Ebd., S. 51.

[705] Ebd.

[706] Ebd., S. 52.

[707] Ebd., S. 86 (Hervorhebungen im Original).

[708] Ebd., S. 88.

[709] Ebd., S. 99 (Hervorhebungen im Original).

[710] Ebd., S. 74.

[711] Ebd., S. 75.

[712] Ebd., S. 153.

[713] Ebd., S. 26.

[714] Ebd., S. 207.

[715] Ebd., S. 128.

[716] Ebd., S. 289f.

[717] Ebd., S. 245.

[718] Ebd., S. 244.

[719] Ebd., S. 364.

[720] Ebd., S. 365.

[721] Ebd., S. 428.

[722] Ebd., S. 461.

[723] Ebd., S. 365.

[724] Ebd., S. 438.

[725] Ebd.

[726] Ebd., S. 483.

[727] Ebd.

[728] gefunden im Internet: http://www.perlentaucher.de/autoren.

[729] McGinniss, Joe (2000): Das Wunder von Castel di Sangro, S. 29.

[730] Ebd., S. 30. 

[731] Ebd., S. 451.

[732] Ebd., S. 457.

[733] Ebd., S. 201.

[734] Ebd.

[735] Ebd.

[736] Ebd., S. 374.

[737] Ebd., S. 331.

[738] Ebd., S. 124.

[739] Die Bücher The selling of the president und The last brother: The rise and fall of Ted Kennedy befassen sich beide mit Themen und Personen, die im Blickpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Das erste Buch beschäftigt sich mit der Wahlkampagne Richard Nixons im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 1968, bei der erstmals das Fernsehen massiv genutzt wurde. Das zweite Werk beleuchtet das Leben Ted Kennedys nach dem Tod seiner beiden erfolgreichen Brüder John und Robert. McGinniss schildert hier den Versuch Ted Kennedys in die großen politischen Fußstapfen seiner Brüder zu treten. Quelle:

http://www.sportsjones.com.          

[740] McGinniss, Joe (2000): Das Wunder von Castel di Sangro, S. 476.

[741] Ebd., S. 483.

[742] Ebd., S. 484.

[743] gefunden im Internet: http://www.perlentaucher.de/autoren.

[744] Der ehemalige Footballspieler, Fernseh-Kommentator und Schauspieler (u.a. Die nackte Kanone) wurde des Mordes an seiner Frau und deren Geliebten angeklagt. Nach einem spektakulären Prozess wurde er jedoch von diesem Vorwurf freigesprochen. Das Urteil rief bei einem großen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit Kritik hervor, da einige Indizien für die Schuld Simpsons sprachen. Man zweifelte daher an einer ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens.

[745] Quelle: http://www.sportsjones.com.

[746] McGinniss, Joe (2000): Das Wunder von Castel di Sangro, S. 401.

[747] Ebd.

[748] Ebd., S. 379.

[749] Ebd.

[750] Ebd., S. 295.

[751] Ebd., S. 260.

[752] Ebd.

[753] Ebd., S. 417.

[754] Ebd., S. 186.

[755] Ebd., S. 283.

[756] Ebd., S. 473.

[757] Ebd.



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