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8. 4 Alan Sillitoe: Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

8. 4. 1 Basis-Analyse

Der siebzehnjährige Colin Smith ist Insasse einer Besserungsanstalt im englischen Essex. Der Direktor der Anstalt lässt ihn im Langstreckengeländelauf ausbilden. Smith soll für die Anstalt die Landesmeisterschaft in dieser Disziplin gewinnen. Der Häftling nutzt das tägliche Lauftraining zum Nachdenken über sein Leben. Für ihn steht fest, dass er nach seiner Entlassung genauso weiterleben wird wie vor seiner Inhaftierung. Eine Anpassung an die bürgerlichen Werte, wie sie der Anstaltsdirektor verkörpert, kommt für ihn nicht in Frage. Zum Zeichen seiner Nichtanpassung fasst er den Beschluss, das Meisterschaftsrennen zu verlieren, obwohl er dem Direktor indirekt den Pokal versprochen hat.

Während des Laufens erinnert sich Smith auch an die Tat, die ihn in die Besserungsanstalt brachte. Gemeinsam mit seinem Freund Mike hatte er eine Geldkassette aus dem Büro einer Bäckerei gestohlen. Beide beschlossen, das erbeutete Geld nicht sofort auszugeben, um keinen Verdacht auf sich zu lenken. Die Geldscheine wurden aus diesem Grund in einem Regenrohr neben der Hintertür von Smiths Haus deponiert. Einige Tage später erschien ein Polizist bei Smith, da es Hinweise auf seine Täterschaft gab. Erste Verhöre und eine Hausdurchsuchung blieben aber ergebnislos. Als der Beamte an einem Regentag zum wiederholten Mal an seiner Hintertür stand und ihm Fragen stellte, wurden die versteckten Scheine aus dem Regenrohr gespült. Alle Ablenkungsmanöver waren vergebens und Smith wurde verhaftet.

Am Tag des Rennens stellt der Anstaltsdirektor Smith eine Karriere als Profiläufer in Aussicht. Im Falle eines Sieges soll er einen Trainer erhalten, der ihn zu einem Spitzenläufer ausbildet. Während des Laufes trifft Smith die endgültige Entscheidung, sich besiegen zu lassen und freut sich bereits auf den ungläubigen Gesichtsausdruck des Direktors, wenn seine Niederlage feststeht. Auch durch die im Raum stehende Läuferkarriere lässt er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Drohende Repressalien durch den Direktor während der restlichen Zeit seiner Inhaftierung schrecken Smith ebenfalls nicht ab. Kurz vor dem Ziel fängt er an auf der Stelle zu laufen und lässt den nachfolgenden Konkurrenten als ersten die Ziellinie passieren. Trotz seiner Niederlage im Rennen sieht sich Smith als Sieger. Er hat dem Direktor nicht zu dem ersehnten Pokal verholfen und lebt nach seiner Entlassung wieder ein Leben nach seinen Vorstellungen.

8. 4. 2 Einordnung in einen Aufbaumuster-Typ

Alan Sillitoes Roman Die Einsamkeit des Langstreckenläufers lässt sich dem Aufbaumuster-Typ Kasus I zuordnen. Der Protagonist Colin Smith stellt einen Aufsteiger dar, weil er das Laufen in sportlicher Form vor seiner Einweisung in die Besserungsanstalt[758] noch nie betrieben hat.

„Sobald ich ins Borstal kam, machten sie mich zum Langstreckengeländeläufer. Sie dachten vermutlich, ich sei dazu gerade richtig gebaut, denn ich war hager und lang für mein Alter (und bin immer noch so), und jedenfalls hatte ich nicht viel dagegen, wenn ich ehrlich sein soll, denn Laufen ist bei uns zu Hause immer groß geschrieben worden, besonders das Weglaufen vor der Polizei.“[759]           

Smith ist Teil zweier unterschiedlicher Normsysteme, was typisch für dieses Aufbaumuster ist. Auf der einen Seite stehen die Normen des Lebens, das Smith bis zu seiner Inhaftierung geführt hat. Dieses ist geprägt von gelegentlicher Arbeit und Verstößen gegen das Gesetz. Wenn er sich nicht „an einer Fräse mit den anderen zusammen die schwache Seele aus dem Leib“[760] schwitzt, bestreitet er seinen Lebensunterhalt mit Diebstählen. „»Ich kam, knackte und stieg ein.«“[761] Auf der anderen Seite stehen Normen wie beispielsweise Strebsamkeit, die ein Leben ohne Verbrechen prägen. Diese sollen Smith mit Hilfe des Sports in der Besserungsanstalt beigebracht werden. Immer wieder wird ihm und seinen Mitgefangenen vor Augen geführt, „daß der Sport genau das Richtige ist“[762], um sie dahin zu bringen „ein ehrenhaftes Leben zu führen“[763]. Aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit konkurrieren die beiden Normsysteme miteinander.

Smith schätzt einerseits die Privilegien, die ihm durch den Sport geboten werden. Er darf beispielsweise als einziger die Anstalt für das tägliche Lauftraining verlassen.

„Das macht richtig Spaß, als Langstreckenläufer allein da draußen, und keine Seele da, die dir die Laune verdirbt oder sagt, du sollst was machen […]. Manchmal denk ich, ich bin noch nie so frei gewesen wie in den beiden Stunden, wenn ich den Weg draußen vor den Toren lang trotte und bei der laublosen breitbauchigen Eiche am Ende des Heckenwegs wende.[764]   

Außerdem bietet sich ihm durch das Laufen die Möglichkeit, über sein Leben zu sinnieren. „Und dieser Fez mit dem Langstreckenlauf ist das Beste dran, weil ich dabei so gut nachdenken kann, daß ich alles besser begreife als abends im Bett.“[765] Andererseits hat Smith aber auch das Bedürfnis, sein Leben nach der Entlassung so weiterzuführen, wie er es vorher getan hat. „Das ist ein schönes Leben, sag ich mir immer, wenn du dich von den Bullen und den Borstal-Bossen und den übrigen schuftsfratzigen braven Bürgern nicht kleinkriegen läßt.“[766]

Smith ist der Ansicht, dass es durchaus legitim ist, seinen Lebensunterhalt mit Diebstahl zu bestreiten. Das Normsystem, in dem er sich außerhalb der Besserungsanstalt bewegt, ist bestimmt durch diese Gesetzmäßigkeit. Auch die Tatsache, dass er „schon mal wegen einer Mauerkletterei im Erziehungsheim gewesen war“[767] kann ihn nicht von seiner Einstellung abbringen. Er zieht das Verbrechen der normalen Arbeit vor.

„Ich will euch nicht verheimlichen, daß wir durch die ganze Stadt spaziert sind, […], und wenn wir die Augen nicht auf der Erde hatten, wo sie nach verlorenen Brieftaschen und Uhren suchten, dann schielten sie nach offenen Fenstern und Ladentüren, ob nicht irgendwo was Lohnendes zu klemmen war.“[768]

Das System, in das Smith während seines Aufenthaltes in der Besserungsanstalt integriert werden soll, wird von anderen Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Hier gehört Diebstahl nicht zu den bevorzugten Methoden, um an Geld zu gelangen. Anpassung an die gesellschaftlichen Konventionen und Leistungsbereitschaft zählen zu den bestimmenden Normen. Wer sich nach diesen Vorgaben richtet und entsprechend handelt, wird belohnt. Der Direktor der Anstalt verdeutlicht dies in einem Gespräch mit Smith:

„Wir brauchen harte, ehrliche Arbeit, und wir brauchen gute Leistungen im Sport. […] Und wenn du uns das beides gibst, kannst du versichert sein, daß wir dich anständig behandeln und als ehrlichen Menschen ins Leben zurückschicken werden.“[769] 

Smith bereitet das Laufen zwar Spaß, aber es gefällt ihm nicht, dass er damit dem Anstaltsdirektor, der ein Repräsentant des anderen Normsystems ist, bei der Verfolgung seines Zieles helfen soll. Dessen Wunsch ist es nämlich, dass Smith als Zeichen seines guten Willens die Meisterschaft im Langstreckengeländelauf für seine Einrichtung gewinnt. Der junge Häftling soll auf diese Art und Weise zeigen, dass er sich den Wertvorstellungen, die in der Anstalt gelehrt werden, anpasst. Da der Direktor von seinen Erziehungsmethoden überzeugt ist, geht er fest davon aus, dass Smith alles daran setzen wird, um die begehrte Trophäe zu erringen: „»Gut der Mann, ich weiß, du holst uns den Pokal.«“[770] Wie es das Aufbaumuster vorsieht, wird der Protagonist an diesem Punkt mit einem Vertreter des konkurrierenden Systems konfrontiert. Smith ist fest entschlossen, dem Wunsch des Direktors nicht zu entsprechen. Er nimmt sich vor, den Pokal nicht zu gewinnen. „Einen Scheißdreck werd ich dir! Nein, ich hol ihnen den Pokal nicht, und wenn der dämliche schnauzerschniegelnde Saftsack auch seine ganze Hoffnung auf mich setzt.“[771]

Auch die Art, wie der Anstaltsleiter ihn behandelt, sagt Smith nicht zu. „Und nun redet der Direktor auf seinem Rundgang mit mir  fast so, wie er mit seinem sieggewohnten Rennpferd reden würde, wenn er eins hätte.“[772] Er ist verärgert darüber, dass der Direktor ihn wie ein Investitionsobjekt behandelt, von dem er sich Profit erhofft. Auch hier entspinnt sich ein Konflikt mit dem Repräsentanten des anderen Systems. Am deutlichsten wird die Konfrontation zwischen den unterschiedlichen Wertvorstellungen allerdings, als Smith seine Gedanken über die Besserungsanstalt und deren Personal beschreibt: „Ihr seht also, wie sie mich ins Borstal geschickt haben, haben sie mir das Messer gezeigt, und seitdem weiß ich was, was ich vorher nicht gewußt hab: zwischen mir und denen herrscht Krieg.“[773] 

Es entspricht dem Aufmuster-Typ Kasus I, dass die Entscheidung des Protagonisten zugunsten eines Normsystems fällt. Smith entschließt sich für das System, das sein Leben vor der Inhaftierung bestimmte. Erste Anzeichen für diese Entscheidung finden sich bereits während der Trainingsphase vor dem Rennen, als Smith beabsichtigt, nicht siegen zu wollen. In ihm reift der Entschluss, seinem Lebensstil treu zu bleiben.

„Wenn die braven Geachteten darauf hofften, daß sie’s mir abgewöhnen, einen falschen Zug zu machen, da vergeuden sie nur ihre Zeit. Da können sie mich genausogut gleich an die Wand stellen und mit zwölf Knarren losballern.“[774]

Beim Start des Wettlaufes fällt dann die endgültige Entscheidung, das Meisterschaftsrennen zu verlieren und sich damit gegen das durch die Anstalt vermittelte System zu stellen. „Denn hier würde ihnen der todsichere Sieger versacken, gerade weil die ihm einen großen Namen verschafft haben, würde untergehen und sich dabei kaputtlachen, und wenn er dran erstickt.“[775]

Smith fällt die Entscheidung zugunsten seines Normsystems in erster Linie aus moralischen Gründen. Er hält seinen Lebenswandel und auch seine eigene Person für aufrichtiger als den Lebensstil, der ihm in der Anstalt zu vermitteln versucht wird. Der junge Anstaltsinsasse stuft sich selbst als einen „ehrlichen, anständigen, schwer arbeitenden, gewissenhaften Burschen“[776] ein. Er hat seine eigenen Vorstellungen, von denen er sich durch niemandem abbringen lässt, erst recht nicht von dem Leiter der Einrichtung. Der Direktor stellt für Smith den Repräsentanten eines, aus seiner Sicht, falschen Normsystems dar.  

Die Entscheidung des Häftlings fällt gegen den Sport und damit auch gegen das Normsystem, das ihn wieder in die Gesellschaft eingliedern soll.

„Auf diese Masche mit dem Wettrennen kriegen sie mich nicht, mit dem Laufen und dem Jagen nach dem Sieg, dem Zotteln um ein blaues Stück Band, weil man so nämlich überhaupt nicht weiterexistieren kann, obwohl die steif und fest behaupten, ja.“[777]   

Der sportliche Wettkampf ergibt für Smith keinen Sinn, zumal wenn er mehr oder weniger zu der Teilnahme gezwungen wird und obendrein noch die Wünsche anderer verwirklichen soll. Er bleibt zwar dem Laufen treu, aber nicht in der Form, in der es von ihm verlangt wird. Smith möchte es in einer Art und Weise nutzen, die ihm für seinen Lebensstil zweckgemäß erscheint: als Mittel zur Flucht vor der „Polente nach meinem größten Bankraub.“[778]

8. 4. 3 Basis-Interpretation

Die Konzeption des Romans Die Einsamkeit des Langstreckenläufers basiert auf einer Schilderung des Aufbegehrens gegen die Werte der bürgerlichen Gesellschaft. Das Buch beschreibt den Kampf des jugendlichen Strafgefangenen Colin Smith, einem Repräsentanten der Unterschicht,  gegen das Wertesystem des Bürgertums.

„SILLITOES Erzählung Die Einsamkeit des Langstreckenläufers ist die Geschichte der Verweigerung der Güter, von denen die bürgerliche Gesellschaft erzählt: von Sieg, Erfolg, Aufstieg, von moralischer Besserung durch den Sport, von einem Leben in Wohlstand, Sicherheit und Achtung.“[779]

Der Protagonist betrachtet die Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft als seine Gegner. „Aber jetzt, wo sie mir das Messer gezeigt haben — egal, ob ich je in meinen Leben noch mal was klau oder nicht —, jetzt weiß ich, wer meine Feinde sind und was Krieg ist.“[780] Der Anstaltsleiter ist einer dieser Feinde. Er vertritt, getreu dem bürgerlichen Wertesystem, die Auffassung, dass der Sport aus den Anstaltsinsassen bessere Menschen macht. Der Direktor ist beseelt von dem Gedanken, dass ein Vertreter seiner Einrichtung den Siegerpokal bei der Landesmeisterschaft der Langstreckengeländeläufer erringt. Durch einen solchen Triumph würde er sich in seiner Auffassung bestätigt fühlen. Smith ist dazu ausersehen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen. Mit einem Sieg würde der junge Häftling die Anstaltsregeln und damit auch die der bürgerlichen Gesellschaft anerkennen. Gerade das will Smith aber nicht und er beschließt insgeheim, den Wettlauf zu verlieren.

„Den ganzen Tag können sie uns nachspionieren, um zu sehn, ob wir uns zusammenreißen und gut arbeiten und unsern >Sport< treiben, aber unser innerstes Wesen können sie doch nicht röntgen, um rauszufinden, was sich da abspielt.“[781]   

Im Rennen setzt er sein Vorhaben in die Tat um und macht damit „der verhassten Obrigkeit […] einen Strich durch die Rechnung.“[782] Durch die absichtliche Niederlage demonstriert er deutlich seine Ablehnung gegenüber den Regeln der bürgerlichen Gesellschaft. „Die Entscheidung, nicht gewinnen zu wollen, ist Revolte, Verweigerung und Triumph zugleich.“[783] Der junge Häftling ist nicht bereit, sich verbiegen lassen. Er will sein Leben nach eigenen Regeln führen, auch wenn der Direktor dieses Bedürfnis gar nicht wahrnimmt.  „Ich bin ein Mensch mit eigenen Gedanken und Geheimnissen und einem verdammt eigenen Leben, vom dem er gar nicht weiß, dass es da ist, und nie erfahren wird, was da ist, weil er dumm ist.“[784] Nach seiner Entlassung will Smith in dieses Leben zurückkehren. Er nimmt dabei in Kauf, wieder mit der bürgerlichen Gesellschaft in Konflikt zu geraten.

„Und es gibt Tausende von denen, im ganzen pestbeuligen Land, in Geschäften, Büros, auf Bahnhöfen, in Autos, Häusern, Kneipen — brave Geachtete wie ihr und sie, alle auf der Lauer nach Geächteten wie mir und uns — und die warten bloß darauf, daß sie die Polente anrufen können, sobald wir einen falschen Zug machen.“[785]

Smith will sich nach seinen Maßstäben „ein Leben der Unschuld und der ehrlichen Arbeit draußen einrichten.“[786] Auch wenn dieses Leben durch Gesetzesverstöße wie Diebstahl finanziert wird, ist er immer noch der Meinung, dass es ein besseres und ehrlicheres als das des Direktors ist: „Denn Leute wie der Direktor werden zum Beispiel auch nie begreifen, daß ich ehrlich bin, daß ich nie was andres als ehrlich war und daß ich immer ehrlich bleiben werde.[787]

Die dem Werk zugrunde liegende Literaturauffassung beinhaltet den Anspruch, auf Missstände innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Der Autor zeigt in seinem Buch auf, welche Folgen es haben kann, wenn Menschen mit einem Erziehungsauftrag ihre Machtposition zum eigenen Vorteil ausnutzen wollen. Das Fehlverhalten wird anhand der Person des Anstaltsdirektors dokumentiert. „Dieser will durch Colin nicht nur seine strenge mens sana in corpore sano-Philosophie bestätigt wissen, sondern er möchte auch sein berufliches Ansehen stärken.“[788] Der Direktor will Smith für seine Zwecke auszunutzen, indem er von ihm fordert, die Meisterschaft im Langstreckengeländelauf zu erringen. Der Gewinn des Pokals durch einen seiner Zöglinge soll beweisen, dass seine Methode der Resozialisierung durch den Sport praktikabel und erfolgreich ist. Die Gesellschaft soll folgenden Eindruck erlangen: „>Der erzieht seine Jungs eben doch ganz gut fürs Leben; er verdient einen Orden, aber wir werden ihn sogar zum Sir machen lassen.<“[789] Um dieses Ziel zu erreichen, missbraucht der Direktor seine leitende Position und stellt Smith vor die Wahl: Entweder er gewinnt die Meisterschaft und wird während seines Anstaltsaufenthalts gut behandelt, oder er verliert das Rennen und der restliche Aufenthalt in der Anstalt wird ihm erschwert. Der Direktor formuliert seine Absichten in metaphorischer Form: „»Wenn Du uns gute Bälle servierst, werden wir dir auch gute Bälle servieren.«“[790] Um einen zusätzlichen Anreiz für Smith zu schaffen, stellt er seinem Gefangenen für die Zeit nach seiner Entlassung sogar eine Karriere als Berufsläufer in Aussicht. „»Also«, sagte der Direktor, »hol uns heute den Pokal, und ich werd alles für dich tun, was ich kann. Ich laß dich von jemand trainieren, dass du jeden Läufer der freien Welt in die Tasche steckst.“[791]

Smith durchschaut die, aus seiner Sicht, niederen Absichten des Direktors, weiß aber auch ganz genau, was ihm für die übrige Zeit seiner Inhaftierung droht, sollte er den Auftrag nicht erfüllen. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass der Anstaltsleiter dann nichts unversucht lassen wird, „um’s [ihm] zurückzuzahlen.“[792] Trotzdem will er sich nicht vor den Karren des Direktors spannen lassen und damit gleichzeitig seine Ideale verraten. „Smith spürt, daß er von ihm nur als menschliches Rennpferd angesehen wird, das für seinen Besitzer einen Sieg erlaufen soll.“[793]

An dieser Stelle tritt ein zweiter Aspekt zu Tage, auf den die Leser mittels der Literatur aufmerksam gemacht werden sollen. Sillitoe will zeigen, dass man sich  nie seiner persönlichen Werte und seiner geistigen Freiheit berauben lassen sollte, auch wenn dies mit Schwierigkeiten und drohenden Sanktionen verbunden ist. Demonstriert wird dieses Verhalten an Smith. Wohl wissend, dass die letzten sechs Monate seines Aufenthaltes von Repressalien geprägt sein werden, entschließt er sich, dass Rennen zu verlieren. Smith bringt damit einerseits zum Ausdruck, dass er die bürgerlichen Werte ablehnt und andererseits, dass er nicht bereit ist, sich zum Erfüllungsgehilfen der Obrigkeit machen zu lassen. Er möchte sich seine geistige Freiheit bewahren und ist entschlossen, an den Werten, die sein Leben prägen, festzuhalten, auch wenn diese nicht immer gesetzeskonform sind.

„Er muß sich selbst, seinen Mitzöglingen und der Gesellschaft beweisen, daß er ein wirklich freier Mensch ist. Zwar können ihn der Direktor oder die Polizei einsperren, aber das widerspricht nicht der Tatsache, daß der Zögling frei handelt.[794]

Die absichtlich herbeigeführte Niederlage dient Smith dazu, die Beibehaltung seiner Prinzipien zu demonstrieren. Er lässt einen Konkurrenten kurz vor dem Ziel freiwillig passieren, um seine Eigenständigkeit, seine persönliche Freiheit und seinen Lebensstil zu unterstreichen.

„Während des Laufes wird dem jugendlichen Strafgefangenen Smith klar, welche Opfer er zu bringen hat, wenn er sich auf die Vorstellungen der Mittelschicht über den Sport einlässt. Sein zum Greifen naher Sieg erscheint ihm als Sieg der Mittelklasse, die ihn zum Sporttreiben überredet hat und seine Begabung ausnutzen möchte, und als eine persönliche Niederlage für ihn, den gesellschaftlichen Außenseiter.“[795]     

Durch seine Niederlage auf sportlicher Ebene erringt Smith also einen persönlichen Sieg. Er triumphiert über den Direktor und die Wertvorstellungen der Mittelschicht. Gleichzeitig bleibt er sich und seinem Normsystem treu.

Der Autor will mit diesem Verlauf der Handlung zeigen, dass Macht und Einfluss alleine manchmal nicht genügen, um bestimmte Vorhaben in die Tat umzusetzen. Außerdem wird beschrieben, dass das Beibehalten der individuellen Prinzipien zu einer Festigung der Persönlichkeit führen kann. Denn trotz der ihm durch den Direktor auferlegten Strafarbeiten nach seiner Wettkampfniederlage verlässt Smith  selbstbewusst und in seinen Ansichten bestärkt die Besserungsanstalt. „Die Arbeit hat mich nicht umgehaun; sie hat mich höchstens in vieler Hinsicht stärker gemacht, und der Direktor wußte, wie ich entlassen wurde, daß ihm seine Gehässigkeit nichts genutzt hat.“[796]   

Zum Überzeugungssystem des Autors gehört es, für den Erhalt der Individualität zu kämpfen. Hierbei hat er besonders die Eigenständigkeit der Jugendlichen aus der Arbeiterklasse im Blick. In dem Buch Die Einsamkeit des Langstreckenläufers ist Sillitoes Einstellung klar erkennbar: „Junge Menschen der Unterschicht müssen ihre Individualität gegen äußeren Druck verteidigen.“[797] Der Autor bringt seine Überzeugung nicht nur in diesem Roman zum Ausdruck. Bereits in seinem Erstlingswerk „Samstagnacht und Sonntagmorgen“[798] wird der Standpunkt deutlich. Sillitoe lässt auch hier einen „jugendlichen, rebellischen Helden“[799] aus der Arbeiterschicht gegen „»Gefängnisleben« und Obrigkeit“[800] kämpfen. Das Eintreten des Schriftstellers für die Werte der Jugendlichen aus der Arbeiterschicht lässt sich mit seiner eigenen sozialen Herkunft erklären. Sillitoe selbst entstammt dem englischen Arbeitermilieu. „Der Sohn eines ungelernten Arbeiters verließ 14jährig die Schule, um als Dreher in einer Fahrradfabrik seinen Unterhalt zu verdienen.“[801] Eigene Erfahrungen aus dieser Zeit werden dazu beigetragen haben, dass der Autor in seinen Werken immer wieder seiner Überzeugung Ausdruck verleiht. Colin Smith drückt in Die Einsamkeit des Langstreckenläufers den Wunsch nach der Erhaltung seiner individuellen Freiheit sehr deutlich aus. Der Protagonist möchte in keinem Fall mit einem Menschen wie dem Anstaltsdirektor tauschen und so sein wie er.

„Im Augenblick sind’s solche toten Kerle wie er, die die Oberhand über solche Kerle wie mich haben, und ich bin fast ganz sicher, daß es immer so bleiben wird, und trotzdem möchte ich verdammt noch mal lieber so sein wie ich bin […]. Vielleicht ist man tot, sobald man die Oberhand über jemand gewinnt.“[802]

Die Ehrlichkeit spielt in Sillitoes Überzeugungssystem ebenfalls eine wichtige Rolle. Für den Autor gilt es als erstrebenswerte Eigenschaft, wenn jemand zu seiner Sicht der Dinge steht und diese auf ehrliche Weise vertritt. Smith besitzt diesen Charakterzug. Da er die Ansichten und Wertvorstellungen des Direktors für unaufrichtig und falsch hält, behält er seine Lebenseinstellung bei und demonstriert das auch ganz offen durch seine Wettkampfniederlage.

„Nein, ich werde ihm schon zeigen, was Ehrlichsein heißt, und wenn ich dabei vor die Hunde geh, obwohl ich sicher bin, daß er das nie versteht, denn wenn er und alle von seinem Schlage das verstehn würden, hieße das, daß sie auf meiner Seite ständen, und das ist unmöglich.“[803]



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Fußnoten

[758] „Besserungsanstalt“ ist die Übersetzung für das im Roman verwendete englische Wort „Borstal“. Quelle: Klatt, Prof. Edmund; Roy, Dr. Dietrich (Hrsg.): Langenscheidts Taschenwörterbuch der englischen und deutschen Sprache. Langenscheidt KG, Berlin und München 1983, S. 76.

[759] Sillitoe, Alan: Die Einsamkeit des Langstreckenläufers. Diogenes Verlag AG, Zürich 1975, S. 5.

[760] Ebd., S. 23.

[761] Ebd., S. 31.

[762] Ebd., S. 7.

[763] Ebd.

[764] Ebd., S. 10.

[765] Ebd.

[766] Ebd., S. 11.

[767] Ebd., S. 42.

[768] Ebd., S. 28.

[769] Ebd., S. 8.

[770] Ebd., S. 12.

[771] Ebd., S. 12f.

[772] Ebd., S. 12

[773] Ebd., S. 17.

[774] Ebd., S. 9.

[775] Ebd., S. 52.

[776] Ebd., S. 35.

[777] Ebd., S. 55.

[778] Ebd., S. 57.

[779] Gebauer, Gunter (1988): Der erzählte Sport. S. 9 (Hervorhebungen im Original).

[780] Sillitoe, Alan (1975): Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, S. 17.

[781] Ebd., S. 9 (Hervorhebungen im Original)

[782] Harenbergs Lexikon der Weltliteratur (1995), Band 4; S. 823.

[783] Gebauer, Gunter (1988): Der erzählte Sport, S. 9 (Hervorhebungen im Original).

[784] Sillitoe, Alan (1975): Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, S. 13.

[785] Ebd., S. 9 (Hervorhebungen im Original).

[786] Ebd., S. 69.

[787] Ebd., S. 15 (Hervorhebungen im Original).

[788] Leis, Mario:Sport in der Literatur. Aspekte ausgewählter Sportmotive im 20. Jahrhundert. Lang-Verlag Frankfurt am Main, 1999, S. 35 (Hervorhebungen im Original).

[789] Sillitoe, Alan (1975): Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, S. 63.

[790] Ebd., S. 8.

[791] Ebd., S. 50.

[792] Ebd., S. 58.

[793] Harenbergs Lexikon der Weltliteratur (1995), Band 4; S. 823.

[794] Leis, Mario: Sport in der Literatur. Aspekte ausgewählter Sportmotive im 20. Jahrhundert. Lang-Verlag Frankfurt am Main, 1999, S. 36.

[795] Gebauer, Gunter (1988): Der erzählte Sport, S. 9.

[796] Sillitoe, Alan (1975): Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, S. 68.

[797] Harenbergs Lexikon der Weltliteratur (1995), Band 4; S. 823.

[798] Alan Sillitoe schildert in dem 1958 erschienen Roman den Alltag des jungen Akkordarbeiters Arthur Seaton. Die harte körperliche Arbeit, die er täglich verrichten muss, lässt Revolutionsgedanken im Protagonisten aufkeimen. Sein Protest gegen gesellschaftlich höher stehende Personen wie Fabrikaufseher, Finanzbeamte und Polizisten äußert sich aber nicht durch politisch korrektes Handeln. Arthur kompensiert seine Unzufriedenheit durch eine ausschweifende Freizeitgestaltung. Er hat Affären mit verheirateten Frauen und prügelt sich während seiner Kneipentouren. Im Unterschied zu Die Einsamkeit des Langstreckenläufers wird in diesem Buch auch noch das Leben des Protagonisten als Erwachsener geschildert, in welchem er sich dann doch den gesellschaftlichen Konventionen anpasst.   

[799] Harenbergs Lexikon der Weltliteratur (1995), Band 4, S. 2548.

[800] Ebd.

[801] Ebd., S. 2665.

[802] Sillitoe, Alan (1975): Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, S. 14.

[803] Ebd., S. 66.



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