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Einleitung: Theorien im Werkzeugkasten

Vor der Hinwendung zur eigentlichen Arbeit, der Sichtung und Diskussion der für die Themenstellung einschlägigen Texte, sollen zunächst im Rahmen eines ‚einleitenden Exkurses‘ noch einige Gedanken formuliert werden, die sich während der Vorarbeiten und der Lektüre der relevanten Texte eingestellt haben. Zwar verfahren diese Überlegungen weitgehend kursorisch, eher hypothetisch, und können allenfalls formal die legitimierende – aber eben auch: nivellierende – Kraft des „man“ (im Heideggerschen Sinne[1]) in Anspruch nehmen, derer sich das streng begriffene wissenschaftliche Arbeiten bedient. Dennoch sollten sie als zur vorliegenden Arbeit gehörend nicht unberücksichtigt bleiben, da sie deren Geltungshorizont grundlegend betreffen. Zudem reizt die spätestens anläßlich einer Abschlußarbeit akute Frage nach den erworbenen Kompetenzen, denen nicht nur das rein philologische Arbeiten zuzurechnen wäre, zu einer – wenngleich randgängigen – Probe aufs Exempel, die nicht mehr als ein Diskussionsangebot sein möchte. Demgemäß gründen sich die folgenden Bemerkungen nicht allein auf rezipierte Texte, sondern implizit wohl zum Teil ebenso auf ‚empirische Daten‘ (Diskussionen etc.), gewonnen aus der Eingebundenheit in den akademischen Betrieb.

Die Frage nach dem Nutzen der Systemtheorie Luhmanns für die Literaturwissenschaft, die leitende Frage der vorliegenden Arbeit, ist eine Scheinfrage, wie unschwer einzusehen ist. Die Orientierung der gegenwärtigen – gemeint ist hier stets die germanistische – Literaturwissenschaft anhand eines Theorien- und Methodenpluralismus ist offenkundig[2], weshalb von der Literaturwissenschaft nicht die Rede sein kann. Zwar definiert sich die Forschungsgemeinschaft semantisch durch den ‚Gegenstand Literatur‘, doch hat dieser Gegenstand im Verlauf der Entwicklung (auch des Selbstverständnisses) der Germanistik seine gesellschaftliche Legitimationskraft eingebüßt mit der Folge, daß sich das Fach etwa seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zunehmend der Theorie- und Methodenentwicklung – zumeist in Form von Theorieimporten – widmet.[3] Damit ist weder gesagt, daß die Literatur als Gegenstand mit dieser Entwicklung obsolet geworden sei, noch auch, daß es nicht schon in den früheren Stadien des Fachs methodische und theoretische Konzeptionen gegeben habe. Aber, so soll hier cum grano salis behauptet werden, das (Selbst-)Verständnis der Literaturwissenschaft hat sich dahingehend verschoben, daß sie ihre Legitimation nicht länger in sublimierten Formen der Teilhabe an der „Dignität des literarischen Wortes“[4] sucht, sondern nunmehr in ihrer hermeneutischen Kompetenz – ‚Hermeneutik‘ hier zunächst lediglich allgemein verstanden als anschlußfähiger Zugang zu einem Text. Darin aber zeigt sich letztlich auch ein inhärenter Wechsel von objektbezogener zu operativer Selbstdefinition: Nicht die Existenz der Literatur definiert und legitimiert die Literaturwissenschaft, sondern ihr durch methodische Kompetenz privilegierter Zugang zur Literatur. Damit rückt das „Werkzeug“, der methodische und theoretisch fundierte Zugriff auf Literatur, als Adressat der in dieser Arbeit gestellten Nutzenfrage in den Fokus, denn die primäre Frage richtet sich nicht auf die Verständlichkeit des Bezugsgegenstands, sondern auf die Modalitäten des Verstehens selbst.

Um den Gedanken weiterzuführen, muß die hier verwendete Werkzeugmetapher geklärt werden, die im vorliegenden Provisorium in quasi-begriffli­cher Funktion vorerst weiter verwendet werden soll. Der Ausdruck „Werkzeug“ in bezug auf Erkenntnisleistungen schließt zwei Komponenten in sich. Zum einen besagt er, daß Erkenntnisarbeit (im weitesten Wortsinn) selbst als Werkzeug des Zugriffs auf einen Gegenstand – hier die Literatur – fungiert. Hegel etwa weist noch darauf hin, „daß die Anwendung eines Werkzeugs auf eine Sache, sie vielmehr nicht läßt, wie sie für sich ist, sondern eine Formirung und Veränderung mit ihr vornimmt“[5], was das Erkennen eines Gegenstands „An-sich“ problematisch erscheinen läßt.[6] Nachdem jedoch spätestens erkenntnistheoretische Impulse aus Quantenmechanik, Konstruktivismus u.a. jede Form von Erkenntnis als konstituierende Setzung ohne Transzendenzrest plausibilisiert haben, fallen Beobachtung und ihr Werkzeugcharakter in eins. Die andere Komponente des Ausdrucks ist, wie Wittgenstein betont, die Spezifität eines Werkzeugs: Es gibt verschiedene Werkzeuge, die verschiedene Funktionen erfüllen. Es ist hierbei hervorzuheben, daß keine universelle Gemeinsamkeit zwischen den Werkzeugen besteht, und auch gibt es keines, das die Funktionen aller anderen erfüllen könnte; zudem limitiert die Funktion eines Werkzeugs nicht aus sich heraus die Nützlichkeit eines anderen.[7]

Die vorangegangenen Überlegungen als Arbeitshypothese vorausgesetzt, kann als ‚Zwischensumme‘ festgehalten werden: Einerseits kann bei dem Versuch einer Antwort auf die Frage nach der Nützlichkeit der Systemtheorie für Literaturwissenschaft nicht von einer Einheit ausgegangen werden, da die verschiedenen methodisch-theoretischen Ansätze – als Einheit gewissermaßen von Beobachtung und Perspektive zugleich – zum Teil aufeinander irreduzibel sind und eine Fruchtbarmachung der Systemtheorie je nach Referenz des Ansatzes verschiedene Probleme aufwirft. Andererseits ist darauf zu achten, rückbezogen auf den ‚Gegenstand Literatur‘, daß aufgrund möglicher, noch zu eruierender Verwendungsmöglichkeiten der Systemtheorie Luhmanns für die Interpretation literarischer Werke nicht notwendig die deduktiv ausgerichtete Frage nach ihrer allgemeinen Verwendbarkeit für die Arbeit am Text erfolgen muß, vielleicht nicht einmal sinnvoll ist.[8] Diese Bemerkung wäre trivial, zeigte sich nicht immer wieder ein Drang zur Generalisierung von Ansätzen, die sich in manchen Kontexten als nutzbringend erwiesen haben; psychoanalytische Interpretationsansätze sind ein prominentes Beispiel.

Auf diese Problematik werde ich zum Ende der Arbeit wieder zu sprechen kommen.

Der Aufbau dieser Arbeit folgt einer klaren Dreiteilung. Zunächst werden die allgemeinen Grundzüge der Theoriearchitektur Niklas Luhmanns vorgestellt, da eine präzise Terminologie für deren Verständnis unabdingbar ist. Im zweiten Schritt werden dann Luhmanns eigene Ausführungen zur Kunst im Rahmen der Theorie sozialer Systeme rekapituliert, wobei sich einige kritische Anmerkungen nicht vermeiden lassen. Zuletzt werden die ‚gängigen‘ Ansätze besprochen, die eine Adaption von systemtheoretischen Konzepten für literaturwissenschaftliche Fragestellungen erarbeitet haben, bevor im Schlußteil die Frage vom Nutzen und Nachteil der Systemtheorie für die Literaturwissenschaft noch einmal aus eigener Perspektive aufgegriffen und eine weitere Anschlußmöglichkeit skizziert werden wird.


Fußnoten

[1] Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 171993, § 27 (S. 126–130).

[2] Als Nachweis genügt schon ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse.

[3] Zu dieser Entwicklung vgl. in Kürze Klaus-Michael Bogdal: Einleitung: Von der Methode zur Theorie. Zum Stand der Dinge in den Literaturwissenschaften. In: Ders. (Hrsg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Opladen, 2. Aufl. 1997, S. 10–31. Des weiteren als Material Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek 1994.

[4] Bogdal, Einleitung, S. 26.

[5] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Zit. nach: Hauptwerke in sechs Bänden (Bd. 2). Darmstadt o.J., S. 53.

[6] Zwar verwendet Hegel den Begriff „Gegenstand“ im Sinne der Setzung eines Objekts, die Differenz von Gegenstandserkenntnis und Erkenntnis von Erkenntnis, auch bezüglich der Geltung der Organon-Metapher, bleibt indes als Problem konstitutiv; vgl. G. W. F. Hegel: Einleitung zur Phänomenologie des Geistes. Kommentar von Andreas Graeser. Stuttgart 1988, S. 29ff.

[7] Vgl. auch die Philosophischen Untersuchungen in Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe Band 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M., 11. Aufl. 1997, bes. §§ 11, 14.

[8] Das wäre freilich auch für beliebige andere Ansätze zu bedenken.


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