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1.1 System und Umwelt

„Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt.“[9] Auf dieser Prämisse fußt Luhmanns Theorie sozialer Systeme, die er im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie formuliert. Die Differenz von System und Umwelt bildet die Basisunterscheidung, auf der seine Untersuchungen zum System der Gesellschaft (und deren Systemen) aufbauen.

Die Unterscheidung bzw. Differenzbildung ist die grundlegende Operation des systemtheoretischen Denkens. Ob beobachtet, wahrgenommen, kommuniziert wird: Stets muß eine Unterscheidung getroffen werden zwischen etwas und etwas/allem anderen.[10] Die Systemtheorie Luhmanns ist daher auch als „differenztheoretisch“ zutreffend umschrieben.

Luhmann unterscheidet mechanische, lebende, psychische und soziale Systeme, wobei er den Fokus seiner Untersuchungen auf die letzteren beiden legt, da nur sie im Medium Sinn operieren (vgl. 1.2 Medium und Form; zur Differenzierung sozialer Systeme auch 1.5 Gesellschaftsdifferenzierung). Er bestreitet keineswegs, daß Bewußtseins- und Kommunikationssysteme etwa auf lebende Systeme angewiesen sind, es geht ihm jedoch darum, daß jedes System selbstreferentiell geschlossen funktioniert, so daß es als nicht kausal von der Umwelt determiniert betrachtet werden muß.

Ein System ist eine Kopplung von Elementen, die von der Struktur des Systems determiniert ist („Strukturdetermination“). Ausgehend von den Arbeiten des Biologen Humberto Maturana bezeichnet Luhmann selbstreferentiell geschlossene Systeme als „autopoietisch“. Autopoietische Systeme stellen die Elemente, die sie benötigen, durch ihre eigenen Operationen her, um dadurch wiederum ihre Funktionen fortzusetzen. Nahrung etwa muß vom Organismus erst in die für ihn verwertbare Form umgewandelt werden, das Gehirn verarbeitet externe Reize durch spezifische elektrochemische Vorgänge usw. Was für das System Element ist, muß vom System selbst bestimmt werden; es hat etwa in einem lebenden System eine andere Beschaffenheit als in einem Kommunikationssystem.[11] Durch die jeweils eigene Funktionsweise eines Systems schafft es eine operative Geschlossenheit. Damit ist auch die Systemgrenze operational zu bestimmen und nicht etwa materiell, was im Fall der Zellmembran zwar noch möglich wäre, nicht aber für Bewußtseins- und Kommunikationssysteme.

Die Umwelt ist das, vom Standpunkt des Systems aus betrachtet, ungeordnete Außen. Zwar kann das System die Umwelt beobachten, aber nur, indem es eine Unterscheidung trifft zwischen etwas in der Umwelt und allem anderen; d.h. ein System kann die Umwelt niemals als ganze in den Blick nehmen.[12] Die Beobachtung des Systems reduziert Umweltkomplexität und führt sie über in den systeminternen Umgang mit Außenreizen, der wiederum zu einem Aufbau von Eigenkomplexität des Systems führt; diese steht jedoch immer in einem asymmetrischen Verhältnis zur Umweltkomplexität.

Die Beobachtung definiert Luhmann als Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung: „Die Operation Beobachtung realisiert mithin die Einheit der Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung, das ist ihre Spezialität.“[13] Mit dieser Definition ist die Systemreferenz nicht festgelegt; d.h. sowohl psychische Systeme als auch Kommunikationssysteme können beobachten. Der Begriff der Beobachtung unterläuft somit die traditionelle, an Materialität gekoppelte Subjekt-Objekt-Dichotomie.

Die Operation der Beobachtung wird von Luhmann wesentlich durch zwei Aspekte charakterisiert:

Ø       Beobachtung als Unterscheidung bezweckt die Bezeichnung einer Seite der Unterscheidung (Beobachtung ist somit Formbildung [vgl. 1.2 Medium und Form]). Zugleich wird die andere Seite der Unterscheidung stets mitpräsentiert, „so daß das Bezeichnen der einen Seite für das operierende System zur Information wird nach dem allgemeinen Muster: dies-und-nicht-etwas-anderes; dies-und-nicht-das.“[14] Dabei führt die Operation Beobachtung Unterscheidung und Bezeichnung zugleich aus, daher die Einheit der Differenz.

Ø       Beobachtung ist motiviert durch rekursive Vernetzungen von/mit Gedächtnis (Vergangenem) und Anschlußfähigkeit (zu erwartendem Zukünftigem). Daher ist Beobachtung immer Operation eines Systems und kann nicht als singuläres Ereignis auftreten.

Luhmann unterscheidet zwischen Beobachtung erster und zweiter Ordnung. Beobachtung zweiter Ordnung ist eine Beobachtung, die wiederum Beobachtungen beobachtet. Dabei ist sie zugleich (als Operation der Beobachtung) stets auch Beobachtung erster Ordnung, mit den hierfür geltenden Möglichkeiten und Einschränkungen. Wissenschaft etwa, als eine Form der (Selbst-)Beobachtung von Gesellschaft, operiert auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, und fragt von dort aus nicht was, sondern wie beobachtet wird.

Beobachtung vermag indes die eigene Operation der Beobachtung nicht zu beobachten; sie ist der „blinde Fleck“ der Beobachtung. Zwar kann dies in der Zeitdimension gelöst werden durch Beobachten der eigenen Beobachtung zu einem späteren Zeitpunkt (als Selbstbeobachtung, also zweiter Ordnung), aber auch diese Beobachtung kann ihr Operieren nicht beobachten (als Beobachtung erster Ordnung), so daß sich der blinde Fleck der Beobachtung nur verschieben, nicht aber aufheben läßt.


Fußnoten

[9] Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1987, S. 30. (Bei Wiederholung erscheint die Literaturangabe im folgenden als Kurztitel; Angaben ohne Autorennamen beziehen sich auf Titel Luhmanns.)

[10] Dies wird in den folgenden Abschnitten des Unterkapitels noch aufgenommen und präzisiert werden.

[11] Vgl. für lebende Systeme Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. Bern, München 1987. – Literaturhinweise für die Ausführungen zu Luhmann werden in diesem Unterkapitel nur sporadisch gegeben, da die ‚basics‘ in jedem Buch Luhmanns zu finden sind und ansonsten jeder Satz mit einer Anmerkung zu versehen wäre.

[12] Systeme reduzieren die Umweltkomplexität durch Aufbau von Eigenkomplexität (Komplexitätsreduktion), wobei stets ein Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und System herrscht; vgl. in Kürze Niklas Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2001, S. 7–30, hier S. 18ff. Ausführlicher: Soziale Systeme, Kap. 1.

[13] Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 31999, S. 100.

[14] Ebd., S. 99.


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