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1.3 Medium und Form

Luhmanns Medium-Form-Konzeption (angelehnt an diejenige Fritz Heiders[20]) geht von einer Kritik üblicher Definitionen des Medienbegriffs aus, die durch die zwei Aspekte „Vorstellung einer Vielzahl von Elementen und die Funktion des Vermittelns“[21] charakterisiert seien, ohne daß ihr Zusammenhang klar werde.

Ein Medium setzt nach Luhmann Elemente voraus, die temporär gekoppelt werden und solchermaßen im Medium als unterscheidbare Formen erscheinen können. Ein Medium wird somit durch eine Differenz von loser und fester Kopplung seiner Elemente gekennzeichnet:

Wir müssen dann die Einheit dieser Unterscheidung als Medium bezeichnen, nennen die lose gekoppelten Elemente mediales Substrat und die festen Kopplungen (deren Außenseite jeweils das mediale Substrat ist) Formen.

Ein Medium […] ist eine Unterscheidung (also selbst eine Form!), auf deren Innenseite Elemente fest und auf deren Außenseite Elemente lose gekoppelt sind.[22]

Den hier angedeuteten Wiedereintritt der Form in die Form bezeichnet Luhmann nach George Spencer Brown als „re-entry“. Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können, bleibt festzuhalten, daß Paradoxa in Luhmanns Theoriedesign nicht ein ausgeschlossenes oder zu vermeidendes Drittes, sondern einen intregralen Bestandteil darstellen.[23]

Das Medium selbst ist nicht beobachtbar, sondern nur Formbildungen innerhalb des Mediums. (Mit dieser Feststellung lassen sich theoretische Unschärfen umgehen wie beispielsweise die Ineinssetzung von Macht und Gewalt; letztere ist nach Luhmann eine Form – von verschiedenen möglichen Formen – des Mediums Macht.) Allein die Formseite ist anschlußfähig, was aufgrund des temporären Charakters der Form zu ständiger (Re-) Aktualisie­rung von Formbildung zwingt. Das Medium hingegen ist zeitlich weitaus stabiler; es verbraucht sich nicht durch Formbildungen, wie sich etwa Sprache nicht durch die Formulierung von Sätzen verbraucht.

Das allgemeinste Medium, mit dem Luhmann Bewußtsein und Kommunikation von anderen Systemtypen unterscheidet, ist das Medium Sinn. Sinn ist zunächst die Differenz von Potentialität und Aktualität.[24] Jede Operation eines Systems geschieht als Formbildung im Medium Sinn, d.h. sie ist Selektion eines Bestimmten aus einer (nahezu) unbegrenzten Zahl von Möglichkeiten[25], wobei es auch hier zu beachten gilt, daß Aktualität und Potentialität als zwei Seiten der Form nicht unabhängig voneinander beobachtbar sind; erst die Aktualisierung bildet einen Verweisungsüberschuß auf Mögliches. Da die Unterscheidung aktuell/möglich selbst wiederum sinnvoll ist, handelt es sich auch bei Sinnoperationen um ein re-entry der Form in die Form:

Als operative Einheit aus Unterscheidung und Bezeichnung ist Sinn eine Form, die sich selbst enthält, nämlich die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung. Eine Form ist letztlich eine Unterscheidung, die in sich selbst als Unterschiedenes wiedervorkommt.[26]

Dabei wird der unbezeichnete Möglichkeitshorizont bei jeder Sinnoperation als Welt mitgeführt – die Welt (als Gesamtheit von Möglich- und Wirklichkeiten) ist also stets kopräsent und kann selbst nicht beobachtet werden, da sie nicht etwa von Nicht-Welt unterschieden werden könnte. Ein wichtiger Aspekt des Sinnmediums ist das Zeitmoment, denn es „erscheint die Aktualität dem System als momentane Gegenwart und, vermittelt über Selbstthematisierung, zugleich als (wie immer prekäre) Dauer.“[27] Die Zeitdimension von Sinn flexibilisiert die dinghafte Verfestigung der Sozialdimension.[28]


Fußnoten

[20] Es wird allerdings diskutiert, ob Luhmann Heiders Konzept mißverstanden bzw. ‚produktiv verlesen‘ haben könnte.

[21] Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2000, S. 30.

[22] Ebd., S. 31 (Hervorh. i. Orig.).

[23] „Paradoxie ist dann aber nichts anderes als die Aufforderung, nach Unterscheidungen zu suchen, die for the time being so plausibel sind, daß man sie ‚unmittelbar‘ anwenden kann, ohne nach ihrer Einheit, nach der Selbigkeit des Unterschiedenen zu fragen.“ (Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 159.) Zur Entparadoxierungsleistung und -notwendigkeit von Systemen vgl. zusammenfassend den Artikel Paradoxie in: Claudio Baraldi et al.: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M. 31999, S. 131–135.

[24] Vgl. ausführlich auch Soziale Systeme, Kap. 2.

[25] Der solchermaßen definierte Sinnbegriff siedelt den Unsinn auf der Innenseite von Sinn an; denn auch eine ‚unsinnige‘ Formulierung ist eine Selektion aus einem Möglichkeitsbereich und damit eine Operation im Medium Sinn, innerhalb dessen dann eine weitere Differenzierung nach Sinn und Unsinn getroffen wurde.

[26] Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Band 1. Frankfurt a.M. 1998, S. 57. Der Zusammenhang zu Beobachtung als sinnverwendende und -reproduzierende Operation wird hier deutlich.

[27] Gesellschaft der Gesellschaft 1, S. 51.

[28] Zu den drei Sinndimensionen (Sach-, Zeit- und Sozialdimension), auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, vgl. Soziale Systeme, Kap. 2.VI.


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