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1.5 Gesellschaftsdifferenzierung

In seiner Theorie unterscheidet Luhmann die Gesellschaft von Organisationen und Interaktionen als Typen sozialer Systeme.[40] Die Gesellschaft ist das soziale System, das alle Kommunikationen in sich einschließt; es gibt folglich keine Kommunikation außerhalb der Gesellschaft. Die Struktur der Gesellschaft wird gebildet von ihrer primären Differenzierung in Teilsysteme (bei Luhmann auch: „Subsysteme“), die Kommunikation unter beschränkenden Bedingungen produziert.[41] Ein Teilsystem bildet ein autonomes System innerhalb der Gesellschaft, die dann als (abgegrenzte) Umwelt des Teilsystems fungiert. Neben dieser System-Umwelt-Beziehung des Teilsystems sind innerhalb der Gesellschaft auch System-zu-System-Beziehungen zwischen den Teilsystemen zu beobachten, die durch strukturelle Kopplungen, Simultanoperationen mehrerer Teilsysteme, gewährleistet werden. (Eine Eheschließung etwa ist zugleich eine ‚Operation‘ zwischen zwei Liebenden als auch ein Rechtsakt und, in vielen Fällen, ein Vollzug im Rahmen einer religiösen Institution.) Es soll noch erwähnt werden, daß nicht alle gesellschaftlichen Kommunikationen an die Teilsysteme gebunden sind: „Auch eine hochdifferenzierte Gesellschaft kennt viel ‚freie‘ Interaktion.“[42]

Mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft im 18. Jahrhundert differenziert sich die vormals stratifikatorische zu einer funktional differenzierten Gesellschaft aus. Waren die Teilsysteme zuvor hierarchisch nach Schichten geordnet, bilden sich nun verschiedene Funktionsbereiche der Gesellschaft durch autopoietische Schließung als Teilsysteme der Gesellschaft und konstituieren die Struktur der modernen Gesellschaft. Damit ist nicht behauptet, daß hierarchische Differenzierungen nun nicht mehr in der Gesellschaft zu finden seien, sondern sie sind nun sekundär zu der primären funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Aufgrund der Komplexität der notwendigen Ausführungen zu Bedingungen, Genese und Konsequenzen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung soll hier auf weitere allgemeine Erläuterungen verzichtet werden[43]; relevante Gesichtspunkte werden im folgenden ‚an Ort und Stelle‘ aufgegriffen und expliziert werden.

Aufgrund der zunehmenden Komplexität der gesellschaftlichen Kommunikation, die in der Neuzeit dann besonders durch den Buchdruck forciert wird, nimmt die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, wie in Abschnitt 1.4 Kommunikationsmedien bereits beschrieben, ebenfalls zu. Der Ausbildung von Erfolgsmedien kommt dabei für die moderne Gesellschaft nicht die Funktion einer in der Gesellschaft von Fall zu Fall ‚frei flottierenden‘ Transformation von unwahrscheinlicher in wahrscheinliche Kommunikation zu, sondern:

Die Unwahrscheinlichkeiten des Kommunikationsprozesses und die Art, wie sie überwunden werden, regeln deshalb den Aufbau sozialer Systeme. So kann man den Prozeß der soziokulturellen Evolution begreifen als Umformung und Erweiterung der Chancen für aussichtsreiche Kommunikation, um die herum die Gesellschaft ihre sozialen Systeme bildet […].[44]

Auf dieser Grundlage der Kooperation und Koevolution von verschiedenartiger Erfolgssicherung der Kommunikation und je spezifisch darauf eingestellten Teilsystemen der Gesellschaft ordnet Luhmann in der funktional differenzierten Gesellschaft jeweils ein Teilsystem und ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium einander zu (Geld als Medium der Wirtschaft, Wahrheit als das der Wissenschaft etc.). Nachdem sich die Erfolgsmedien im evolutionären Verlauf mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft voll entwickelt haben, lösen sie die „Selbstkatalyse“ der heute beobachtbaren Funktionssysteme aus.[45]

Jedes Teilsystem folgt in seinen Operationen (Beobachtungen) einer primären Kodierung, die durch sein Kommunikationsmedium vorgegeben ist. Kode bedeutet bei Luhmann in Anlehnung an biogenetische Konzepte eine Struktur mit der „Funktion einer Duplikationsregel“[46], d.h. jede Selektion im Kommunikationsmedium kann eine ‚positive‘ oder eine ‚negative‘ Fassung besitzen – anschaulich im Fall der Sprache: Jeder Ausdruck ist als Ja- oder Nein-Fassung möglich –, an die dann jeweils weitere Selektionen angeschlossen werden können:

Durch die Unterscheidung der beiden Codewerte gewinnt ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium aus jedem Ereignis und aus jeder Situation Information (etwas ist wahr oder nicht-wahr, man zahlt oder zahlt nicht etc.).[47]

Auch wenn die Kontingenz der Selektionen erhalten bleibt, existiert jedoch „eine soziale Präferenz für einen der beiden Werte (den ‚positiven‘)“.[48]

Die Kommunikationsmedien – und damit die gesellschaftlichen Teilsysteme, die auf ihrer Basis operieren – bieten also hinsichtlich ihrer ‚Optik‘ verschiedenartige, aber funktional äquivalente Lösungen des Problems, „reduzierte Komplexität übertragbar zu machen und für Anschlußselektivität auch in hochkontingenten Situationen zu sorgen“[49].


Fußnoten

[40] Vgl. etwa das Schema in Soziale Systeme, S. 16.

[41] Vgl. GLU, S. 63f. ‚Beschränkung‘ der Kommunikation bedeutet hier analog zu Foucault, daß erst aufgrund einer (im weitesten Sinn) institutionalisierten Limitierung der Möglichkeiten –die bereits erwähnte „Komplexitätsreduktion“ (vgl. Anm. 4) – Kommunikationen/Aussagen möglich sind. Reduktion von Möglichkeiten und Produktion von Aktuellem sind mithin zwei Seiten des gleichen Prozesses bzw. der gleichen Form. (Vgl. auch Abschnitt 1.3 Medium und Form.)

[42] Gesellschaft der Gesellschaft 2, S. 598.

[43] Vgl. hierzu ausführlicher ebd., Kap. 4.

[44] Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, S. 81.

[45] Vgl. Baraldi et al., GLU, S. 191.

[46] Einführende Bemerkungen …, S. 36.

[47] Baraldi et al., GLU, S. 193.

[48] Ebd.

[49] Einführende Bemerkungen …, S. 39.


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