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2.4 Evolution und Ausdifferenzierung

Luhmann beschreibt die Ausdifferenzierung des Kunstsystems im Zusammenhang der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, die mit Beginn der Neuzeit einsetzt. Dadurch soll einsichtig gemacht werden, wie die Semantik der (Selbst-)Beschreibung von Kunst mit der Gesellschaftsstruktur korreliert.

Im Mittelalter kommt der Kunst Luhmann zufolge noch eine rein ‚dienende‘ Funktion hinsichtlich der Religion zu. Ein erster Differenzierungsschub ist seit dem Spätmittelalter zu beobachten, als die Kunst einen neuen „Anlehnungskontext“[71] im fürstlichen Mäzenatentum erhält, das in Italien unter Konkurrenzdruck der verschiedenen territorialen Herrschaften entsteht.[72] Trotz der höfischen Gebundenheit erhält die Kunst in diesem Kontext größere Freiheiten als bisher.[73] So verlagert sich die Einschätzung eines Kunstwerks von handwerklichen Gesichtspunkten (Arbeitszeit, Materialwert) zum künstlerischen Können, womit eine Aufwertung des Künstlers und der schönen Künste allgemein einhergeht. Die gesellschaftliche Semantik der Rangdifferenzen führt bezogen auf die Kunst zu ihrer Ausgliederung aus der Zunft­ordnung und einer Eingliederung in die höfischen Verhältnisse. Zugleich entsteht der Bedarf nach neuen bzw. anderen Kriterien für Entscheidungen und Urteile bezüglich der künstlerischen Rangzuweisung, die im Verlauf der Selbstbeobachtung der Kunst mehr und mehr von ihr selbst formuliert werden.

Mit dem Niedergang der fürstlichen Patronageverhältnisse wechselt der Anlehnungskontext zum Kunstmarkt. Trotz der nun einsetzenden Markt­abhängigkeit schafft diese weitere Freiheitsgrade und trägt zur Autonomiebildung der Kunst bei. Die Bindung des Wertes eines Kunstwerks an Künstler wird forciert, wie auch die Unterscheidung von Original und Kopie, die bis in die Gegenwart hinein ein Kriterium der Kunstbeobachtung bleibt. Zudem erfordert der Kunstmarkt abermals andere, unabhängige Kriterien für Kritik der Kunstwerke, gegen die sich dann die Kunst wiederum distanzieren kann durch Ablehnung externer, auf Öffentlichkeit gerichteter Kunstkritik, um sich einerseits von nun als oktroyiert empfundenen Rangfragen lösen und andererseits unter Aufwertung von Kunst als Kultur selbstbezogene Kriterien entwickeln zu können.[74] Daraus resultiert die zunehmende Ablehnung der Diskussion von Kriterien des guten Geschmacks und die Einsetzung der rein auf Kunst bezogenen Genie-Semantik, die zu Anfang in der Selbstbeschreibung noch von der philosophischen Ästhetik sekundiert wird.[75] Des weiteren bewirkt die wirtschaftliche Anbindung der Kunst durch Nachfrage und öffentliche Kunstkritik eine zunehmende Unabhängigkeit von (höfischen) Interaktionen, was zur Folge hat, daß Kriteriensetzungen sich systemisch, also breitenwirksamer bemerkbar machen und nicht etwa durch Wechsel des Mäzens (und dessen Kunstkriterien) umgangen werden können.

Der dritte Evolutionsschub setzt zum Ende des 18. Jahrhunderts ein, als die gesellschaftliche Ausdifferenzierung der Funktionssysteme so weit fortgeschritten ist, daß gesamtgesellschaftliche Kriterien der Systeme ihre Plausibilität verlieren und Universalkompetenz im Fall der Kunst nur noch in der Kunst selbst postuliert werden kann, was Hegel etwa zum Diktum vom Ende der Kunst verleitet.[76] Die Kunst entledigt sich ihrer Anlehnungskontexte, und diese Autonomie erlaubt es der Kunst nun auch, theoretische Optionen in die Kunst hineinzunehmen und kunstintern zu operationalisieren. Damit löst sich die Selbstbeschreibung der Kunst von philosophischer Sekundanz (und damit auch von deren objektiven Wahrheitsansprüchen), als die sich die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandene Disziplin der Ästhetik verstanden hatte. Dies zeigt sich dann bei den Romantikern in der Aufwertung der (nun intern verstandenen) Kunstkritik oder im 20. Jahrhundert anhand der theoretischen Produktion künstlerischer Provenienz.[77]

Parallel zu diesen gesellschaftsstrukturellen Veränderungen ändert sich auch die (Selbst-)Beschreibung der Kunst, was sich anhand semantischer Reflexionen des Verhältnisses von Selbstreferenz und Fremdreferenz in der Kunst, am ‚Referenzverhalten‘ ihrer Formbildungen ablesen läßt:

Die Nähe zur Religion läßt die mittelalterliche Kunst im Bereich des Symbolischen verbleiben. Das Kunstwerk stellt eine Einheit her zwischen dem Zugänglichen und dem Unzugänglichen vermittels der Symbolkraft. Das unsichtbare Bezeichnete (Gott) ist im Symbol anwesend, wodurch das Kunstwerk hier noch der Magie verschwistert ist.[78] Allerdings setzt sich mit der behaupteten Zugänglichkeit zum Unzugänglichen das Symbol zunehmend dem Verdacht aus, bloßes simulacrum zu sein, was mit dem Vermeidungsgebot illusionärer Mittel korrespondiert.

Seit dem 16. Jahrhundert wird die Symbolfunktion zunächst von der Allegorie unterlaufen. Zwar (re-)präsentiert auch sie noch das Unsichtbare, nun jedoch mit deutlichem Bewußtsein seiner Äußerlichkeit. Die Abwesenheit des Bezeichneten wird dann vollends im Zeichencharakter der Kunst erfaßt. Damit einher geht die imitatio-Semantik, also das Gebot der erkennbaren Imitation von Natur im Kunstwerk, wobei die Selbstimitation mit der Unterscheidung Original/Kopie unterbunden wird, um die Invarianz des Bezeichneten durch Variation der Zeichen zu kompensieren.[79] Diese Umstellung der Semantik auf Zeichen[80] hat einen zweifachen Effekt: Zum einen vergrößert sie den künstlerischen Gestaltungspielraum, indem sie auch ‚uneigentliche‘ Formen des Zeichengebrauchs zuläßt (Ironie etc.), zum anderen erlaubt sie eine kunstspezifische Zugangsweise auf das Bezeichnete, die sich vom wissenschaftlichen Zugang und der Maßgabe wahr/falsch distanziert und so wiederum zur Autonomisierung der Kunst beiträgt.

Mit der Vollendung der autopoietischen Schließung am Ende des 18. Jahrhunderts wird denn auch der Zeichencharakter des Kunstwerks fragwürdig. Die Fremdreferenz verlagert sich ein weiteres Mal, diesmal vom imitierten Bezeichneten hin zur (unerreichbaren) Idee des Schönen als Einheit der Kunst, die in einem nunmehr säkularisierten, gleichsam selbstgenügsamen Symbolismus (dem als fiktive Ordnung innerhalb des Kunstwerks auch der ‚Realismus‘ zugerechnet wird) operationalisiert wird.


Fußnoten

[71] Vgl. Kunst der Gesellschaft, S. 256.

[72] Es ist als problematisch anzumerken, daß Luhmann sich hier stets auf die italienische Renaissance bezieht, da in Spanien etwa das Patronagesystem deutlich früher zu beobachten ist, andererseits aber die religiöse Gebundenheit hier weitaus stärker als in Italien bleibt. (Mündliche Mitteilung Gabriele Hundrieser.) Es ist dies nur ein Symptom für die Schwächen einer so stark auf Grobstrukturen abzielenden Theorie sozialer Systeme.

[73] Gemäß des differenztheoretischen Ansatzes Luhmanns sind auch Abhängigkeit und Freiheit (im nicht extremen Fall) keine reziproken Ausschlußbegriffe, sondern sich wechselseitig bedingende Faktoren. Vgl. ebd., S. 254f.

[74] Eine ausführliche Untersuchung dieser Differenzierungsverhältnisse zwischen Kunst und nun als beengend empfundener externer Kritik hinsichtlich der Genese des literarischen Feldes in Frankreich findet sich anhand der Arbeit Flauberts und seiner Zeitgenossen bei Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 2001.

[75] Zur Selbstbeschreibungsfunktion der philosophischen Ästhetik für die Kunst vgl. Kunst der Gesellschaft, S. 268f., 438ff.

[76] Vgl. ebd., 269.

[77] Die kunstimmanente Verzahnung von theoretischen, programmatischen und poetischen Anstrengungen läßt sich anschaulich am Beispiel der reichlichen Manifestproduktion der historischen Avantgarde dokumentieren; vgl. hierzu Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart, Weimar 1995. Auf die Bedeutung und Mitführung kunstinterner Theoriebildung unter Aspekten der Programmbildung weist Luhmann verschiedentlich hin; vgl. Kunst der Gesellschaft, S. 494, sowie Ist Kunst codierbar?, S. 165.

[78] Vgl. Kunst der Gesellschaft, S. 274.

[79] Foucaults Untersuchung der klassischen ‚episteme‘ anhand der repräsentativen Zeichenfunktion und der darauf fußenden funktionalen Äquivalenz der verschiedenen Disziplinen kann hier als Luhmann-analoge Analysestrategie nur erwähnt werden; eine eingehende Arbeit zu dieser Auffälligkeit steht nach wie vor aus. Zur Strategie Foucaults vgl. ders.: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 151999.

[80] Zu einer analogen Analyse der Umstellung von Symbol auf Zeichen gelangt auch bereits Dagobert Frey: Kunst und Sinnbild (1942/45). In: Ders.: Bausteine zu einer Philosophie der Kunst. Hrsg. v. Gerhard Frey. Darmstadt 1976, S. 113–211, hier bes. S. 192ff.


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