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2.5 Zwischensumme I

Die bisherige Darstellung ließe sich beliebig erweitern durch Material oder detaillierte Argumentationsgänge: Es wären Ergänzungen möglich von Aspekten, die bei Luhmann eine nicht unwichtige Rolle spielen, etwa die Leistung der Kunst als Entfaltung (= Invisibilisierung) ihrer fundamentalen Paradoxien, wie sie Luhmanns Analyse zufolge jedem Funktionssystem zugrunde liegen. Weiterhin wäre ein genauer zu untersuchender Punkt die Rolle des Kunstwerks hinsichtlich beispielsweise der evolutionären Tendenz zu dessen Individualisierung seit der Renaissance. Und nicht zuletzt wäre mit Blick auf die eigene disziplinäre Referenz dieser Arbeit eine Sammlung der spärlichen Äußerungen Luhmanns zu einzelnen Kunsttypen möglich.

Dieser nicht realisierten Möglichkeiten ungeachtet läßt sich zusammenfassend eine Tendenz festhalten, die auch durch eine detailliertere Darstellung der Luhmannschen Kunstanalyse nicht relativiert oder aufgehoben wird. Die Analyse Luhmanns verfährt symptomal hinsichtlich der Funktion, welche die Kunst innerhalb der Gesellschaft bekleidet. Überspitzt gesagt: Er betrachtet bezüglich Kunst und Gesellschaft den ‚Normalfall‘ unwahrscheinlicher Kommunikation, während die Frage hier lautet, ob nicht die Aufgabe der Literaturwissenschaft (in ihrem Bereich) nun gerade darin liegen könnte, Ausnahmen zu dokumentieren und zu analysieren.

Luhmann gibt an einer Stelle den Hinweis, daß das Kunstmedium stets auch auf medienunabhängige Ressourcen zurückgreifen muß (eingebracht etwa durch Künstler oder Betrachter), um angesichts der Invarianzstruktur der Medienkodierung Variationsmechanismen zu garantieren.[81] Als Beispiele nennt Luhmann:

Kein Machthaber wird allein deshalb Befehle erteilen, weil er sie durchsetzen kann. Ebensowenig wird Wahrheit nur deshalb mitgeteilt, weil sie wahr ist. In gewissem Umfange hat Geld, zumindest in der bürgerlichen Gesellschaft, Tendenzen, ein motivational selbstgenügsames Medium zu sein. ‚Liebe um Liebe‘ und ‚l’art pour l’art‘ sind zwar Perfektionsmodelle motivationaler Selbstgenügsamkeit, aber mit sehr unterschiedlicher Berechtigung und Lebensdauer. Lediglich im Falle der Liebe scheint die kulturelle Vorschrift, nur um der Liebe willen zu lieben, erfolgreich durchführbar zu sein.[82]

Wenn aber die Kunst nicht selbstgenügsam ist, wenn sie auf me­dien­unabhängige Varianzfaktoren zurückgreifen muß: Wäre die Untersuchung dieser Variationsmechanismen nicht genau das Erfordernis, mit dem die Literaturwissenschaft – möchte sie nicht reine Literatursoziologie sein – umgehen und überzeugen muß?

In den folgenden Kapiteln wird die Diskussion um die Verwendbarkeit der Systemtheorie Luhmanns für die Literaturwissenschaft ausmachen müssen, ob und inwiefern der solchermaßen soziologisch ausgerichtete Zugriff auf Literatur diesen (und anderen) literaturwissenschaftlichen Anforderungen entsprechen kann.


Fußnoten

[81] Vgl. Ist Kunst codierbar?, S. 182f.

[82] Ebd., S. 182.


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