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3.2 Applikationsansätze

3.2.1 Empirische Literaturwissenschaft (ELW)

Die ELW stellt den frühesten Ansatz einer Adaption systemtheoretischer Optionen in den Bereich der Literaturwissenschaft dar und wird seit Mitte der 1980er Jahre besonders von Siegfried J. Schmidt und später modifiziert von der sog. ‚Siegener Gruppe‘ entwickelt.

Erkenntnistheoretisch fußt die ELW auf den Prämissen des Radikalen Konstruktivismus, demzufolge alle Erkenntnis- und damit Weltkonstitution eine Konstruktionsleistung des jeweiligen Beobachters ist; die Erkenntnisgegenstände und deren Ordnungsgefüge sind somit nicht gegebene Objekte und Relationen, sondern Kongnitionsleistungen eines beobachtenden Bewußtseins.[86]

Hieraus erklärt sich ein erster fundamentaler Unterschied der Theorie sozialer Systeme, wie sie die ELW zugrunde legt, von der Systemtheorie Luhmanns. Während dieser, ausgehend von Talcott Parsons, streng zwischen den Systemreferenzen Bewußtsein und Kommunikation differenziert, schließt sich die ELW an eine andere Interpretation von Parsons an, wie sie besonders von Peter M. Hejl konzipiert wird.[87] Hejl definiert soziale Systeme als

eine Menge von Individuen, die a) die gleiche Wirklichkeitskonstruktion ausgebildet haben, sowie, damit einhergehend, eine Menge ihr zugeordneter Handlungen (die als angemessener Umgang mit dieser Wirklichkeit angesehen werden) und die b) mit Bezug auf diese Wirklichkeitskonstruktion interagieren[.][88]

Die Referenz dieses Modells sozialer Systeme ist also Bewußtsein und nicht Kommunikation, und dieser Bezug wird auch in der ELW beibehalten.

Schmidt zufolge differenziert sich im ausgehenden 18. Jahrhundert das gesellschaftliche Teilsystem Literatur[89] aus, das nach der Leitdifferenz literarisch/nicht-literarisch aus den gesamtgesellschaftlichen Aktivitäten ausgegliedert wird. Das als Handlungssystem begriffene Literatursystem umfaßt vier Handlungsrollen: Produzent, Vermittler, Rezipient und Verarbeiter (z.B. Literaturkritiker oder -wissenschaftler).[90] Als Systemgrenze dienen zwei ‚Makrokonventionen‘, an der alle Handlungen im Literatursystem explizit oder implizit orientiert sein müssen:

Ø       „Die Ästhetik-Konvention besagt, daß derjenige, der im Literatursystem in bezug auf literarische Texte handelt, seine sprachlich-kognitiven Handlungen nicht primär nach Kategorien wie wahr/falsch oder nützlich/nutzlos ausrichtet, sondern sie solchen Bewertungen und Elaborationen unterzieht, die er subjektiv für poetisch relevant hält.“

Ø       „Die Polyvalenz-Konvention besagt, daß Aktanten im Literatursystem die Freiheit besitzen, als literarisch eingeschätzte Texte so zu behandeln, wie es für ihre Bedürfnisse, Fähigkeiten, Motivationen und Intentionen optimal ist.“[91]

Bereits aus dieser kurzen Darstellung ist ersichtlich, daß nach Ansicht Schmidts in einer Theorie des Sozialsystems Literatur auf den Aktanten- bzw. Bewußtseinsbezug nicht verzichtet werden kann. Damit korrespondiert Schmidts Ablehnung des Autopoiesis-Konzepts für soziale Systeme, da Kommunikationssysteme für ihn nicht einen selbstreferentiellen Systemtypus bilden, sondern synreferentielle Organisationsstrukturen für simultan operierende Kognitionen.[92] Daraus erklären sich auch zwei Kritikpunkte, die Schmidt gegen Luhmann erhebt: Zum einen wirft Schmidt Luhmann mangelnden Empiriebezug vor, da die Beobachtungspriorität nicht auf Kommunikation, sondern auf Handlungen liegen müsse. Zum zweiten bemängelt er das Fehlen eines klaren Organisationsbegriffs bei Luhmann, der das Verhältnis von Systemkomponenten zueinander und zum System regle.

Beiden Mängeln meint Schmidt über den in der radikal-konstruktivistischen Kongnitions­theorie entwickelten Subjektbegriff abhelfen zu können: über die Annahme, dass Menschen (Subjekte) wegen der operationalen Geschlossenheit ihrer Gehirne erfolgreich nur auf der Basis einer Parallelisierung ihrer kognitiven Zustände – konkret: auf der Basis geteilter Wirklichkeitskonstruktionen und Handlungsregeln – interagieren können.[93]

Der Ansatz der ELW, wie er von Schmidt entworfen worden ist, hat in der Folge einige Kritik auf sich gezogen, deren gewichtigere Aspekte nun summarisch aufgeführt werden sollen.

i) An die beiden letztgenannten Punkte der Kritik Schmidts an Luhmann schließt de Berg zwei Gegenkritiken an. Einerseits möchte er nicht einsehen, weswegen der Bezug auf Handlungen empirischer sein solle als der auf Kommunikation. Zwar ist es richtig, daß Kommunikation interpretiert werden muß, aber dies gilt ebenso für Handlungen. Andererseits sieht de Berg in der Umstellung von einem autopoietischen zu einem konventionsbasierten Systembegriff einen Rückgriff auf ein statisches Modell von Gesellschaft, das implizit vom Differenz- zum Identitätskonzept gesellschaftlicher Ordnung zurückkehrt. Daraus resultiert bei Schmidt ein Ansatz, in dem die doppelte Kontingenz wechselseitig intransparenter Bewußtseinssysteme nicht wie bei Luhmann als Katalysator sozialer Systeme fungiert, sondern lediglich als Problem, das sozial zu überwinden sei.[94] In diesem Punkt nähert sich Schmidt der idealisierenden – und darüber hinaus normativen – Forderung einer konsensbasierten Kommunikation an, wie sie Luhmann bereits in der Position Jürgen Habermas’ kritisiert hatte.[95] De Berg schlägt statt dessen für die Analyse des Literatursystems vor,

dass man dessen Code nicht wie Schmidt mit historisch invariablen Makro-Konven­tio­nen, sondern wie Luhmann mit historisch variablen Programmen bzw. Poetiken verbinden muss. Nur so kann die Dynamik des Literatursystems in den Blick geraten.[96]

ii) Die Bestimmung der Systemgrenzen über Makro-Konventionen hält noch einen weiteren Problempunkt bereit. Schmidt charakterisiert die Funktion von Literatur als

versuchte Überwindung der funktionalen Differenzierung und ihrer Folgeschäden für das Subjekt und die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ in Richtung auf Identität durch Vermittlung eben der Dichotomien, an deren Ausdifferenzierung das Literatursystem selbst maßgeblich beteiligt war.[97]

Die Literatur soll also dem Subjekt in einer differenzierten Gesellschaft gewissermaßen ein Exil der Einheitserfahrung bereitstellen. Ungeachtet eines Befunds über Richtigkeit oder Falschheit einer solchen These fragt Sill nach dem systemtheoretischen Mehrwert der Funktionsbestimmung Schmidts angesichts des Umstands, daß trotz unterschiedlicher theoretischer Rahmungen ähnliche Ergebnisse einer ‚Aura der Gegenerfahrung‘ bereits in dem institutionssoziologischen Konzept Peter Bürgers formuliert worden waren.[98] Dieser hatte in den 1970er Jahren auf der Grundlage des Entfremdungsparadigmas in der Nähe zur ‚Kritischen Theorie‘ Literatur funktional als „Sachwalterin einer in der Lebenspraxis nicht mehr auffindbaren Humanität“[99] bestimmt und damit auf eine allein kritische Funktion festlegt. Den Grund hierfür sieht Sill in dem Umstand, daß Bürger letztlich den der Theorie zugrunde gelegten geschichtsphilosophischen Basisprämissen mehr Beweiskraft zuerkennt als den empirischen Befunden der Primärtextlektüre.[100] Auf diesen Punkt wird in Abschnitt iii) zurückzukommen sein.

Die solchermaßen subjektbezogen definierte Funktion von Literatur korreliert mit der Polyvalenz-Konvention, die – Schmidt zufolge im Gegensatz zur Monovalenz- bzw. Tatsachen-Konvention aller anderen Sprachhandlungen in der modernen Gesellschaft – den Handelnden im Literatursystem die Möglichkeit eröffnet, „sich beim Umgang mit literarischen Werken auf eine Optimierung ihrer subjektiven Ausdrucks- und Erfahrungsmöglichkeiten zu konzentrieren.“[101] Damit erwachsen der synreferentiellen Konzeption sozialer Systeme, und  speziell des Literatursystems, ungeklärte Widersprüche, wie sie Jäger zusammenfassend formuliert:

Letztere [die Polyvalenz-Konvention] hat zur paradoxen Folge, daß die kognitiven Konstruktionen nur insofern konsensuell sind, als sie polyvalent sind. Handlungstheoretisch entspräche der Konvention polyvalenter Semiose nach je individuellen Dispositionen die Rolle einer Rollenfreiheit. Wie kann das Sozialsystem Literatur als synreferentielles System konstruiert werden, wenn (ästhetische) Literatur gleichzeitig zum ‚Ort der geistig, emotional und moralisch gleichermaßen entfalteten Subjektivität‘ […] erklärt wird? Kann der ‚Differenzierungsparasit‘ Literatur über die Funktion der Entdifferenzierung […] bestimmt und im gleichen Zug als Funktionssystem ausdifferenziert werden? Das Resultat ließe sich nur als Ausdifferenzierung der Entdifferenzierung und als Funktion der Funktionslosigkeit beschreiben. Damit repetiert Schmidt exakt die Paradoxien der klassischen Autonomieästhetik, wie sie Schiller auf den Punkt gebracht hat.[102]

iii) Die im vorhergehenden Abschnitt angesprochene Vernachlässigung empirischer Daten, hier der literarischen Texte, führt zu der Frage nach dem (literarischen) Textverständnis der ELW.

Von Beginn an bestimmen stark anti-hermeneutische Akzente die ELW. Damit sind zunächst lediglich traditionelle Interpretationsverfahren wie ‚hermeneutische Einfühlung‘, Werkimmanenz oder Abstellen auf Autorbiographie und -intention kritisiert. Mit dieser Ablehnung traditionell hermeneutischer Verfahren geht die Absage an einen substantiellen Bestimmungsbegriff des literarischen Texts einher, da die Kriterien dafür, was ein literarischer Text sei, historisch fließend und variabel sind. Die Feststellung Gebhard Ruschs ist auch im Umkreis der ELW richtungsleitend:

Linguistische Poetik, Rezeptionsästhetik, Pragmalinguistik und Kognitionswissenschaft haben zu der Einsicht geführt, daß kein Text an und für sich literarisch ist. Texte werden vielmehr von den verschiedenen Akteuren im Phänomenbereich ‚Literatur‘ als literarisch produziert und rezipiert, angeboten und verkauft, kommentiert und kritisiert.[103]

Diese durchaus nicht unplausible These führt indes bei der ELW zu einer unnötigen texttheoretischen Selbstblockade, wie Claus-Michael Ort es umschreibt.[104] Die Einsicht, daß Interpretationen bezüglich der Textreferenz nie erschöpfend als richtig oder falsch zu beurteilen sind, verleitet die ELW nicht zu einer interpretatorischen Beliebigkeit, sondern im Gegenteil dazu, daß sie jeder Form von Textauslegung die Wissenschaftlichkeit abspricht.

Mit dieser Haltung rückt die ELW, wie Sill konstatiert, in die Nähe altbekannter – und weitenteils überholter – Theoriehaltungen, wie sie empirisch-positivistische Ansätze à la Alphons Silbermann oder Hans Norbert Fügen bereits in den 1950er und 60er Jahren formuliert haben.[105] Der Anspruch auf Werturteilsfreiheit, wie er von positivistisch orientierten Positionen dieser Art vertreten wird, kann jedoch aufgrund der Unhintergehbarkeit beobachtungsleitender Setzungen nur auf die Invisibilisierung solcher Urteile hinauslaufen und auf den Reflexionsverzicht eigener literarästhetischer Prämissen. Auch spätere Relativierungen und Zugeständnisse der ELW hinsichtlich des theoretischen Status literarischer Texte haben die Widersprüche nicht beseitigen, sondern nur verschieben können.[106]

Der letztgenannte ist wohl der wichtigste von vielen, hier nicht aufzeigbaren Kritikpunkten an der ELW; zeigt er doch, daß dieser Ansatz weder einem genuin literatur- und also textwissenschaftlichen Anspruch, noch dem soziologischen Interesse an Kommunikationsanalyse genügen kann.


Fußnoten

[86] Vgl. etwa Maturana, Varela, Baum der Erkenntnis; Baraldi et al., GLU, S. 100ff.

[87] Vgl. hierzu Jäger, Systemtheorie und Literatur I, S. 99ff. Hier finden sich auch Hinweise auf die bisweilen fragwürdigen biologistischen Wurzeln der in diesem Modell implizierten Kulturtheorie, das gelegentlich an allzu schematische traditionelle Natur-Kultur-Dichoto­mien erinnert.

[88] Zit. nach ebd., S. 99.

[89] Es scheint bislang noch keine eingehendere Untersuchung zu der Frage zu geben, ob Literatur ein Teilbereich bzw. -system der Kunst sei oder ein selbständiges Teilsystem der Gesellschaft (neben anderen autonomen Kunstsystemen?). Jedenfalls ist in der entsprechenden Literatur eine einheitliche Terminologie nicht auszumachen.

[90] Vgl. Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 60ff.

[91] Beide zit. nach Jäger, Systemtheorie und Literatur I, S. 108. Im folgenden merkt Jäger kritisch an, daß diese Makrokonventionen auf Produktions- und Rezeptionshandlungen, nicht aber auf den Großteil Vermittlungs- und Verarbeitungshandlungen anwendbar seien (vgl. ebd., S. 108f.).

[92] Vgl. ebd., S. 108f., sowie Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 62.

[93] Henk de Berg: Kunst kommt von Kunst. Die Luhmann-Rezeption in der Literatur- und Kunstwissenschaft. In: Ders., Johannes Schmidt (Hrsg.): Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie. Frankfurt a.M. 2000, S. 175–221, hier S. 198.

[94] Vgl. ebd., S. 198ff.

[95] Vgl. Was ist Kommunikation?, S. 103.

[96] De Berg, Kunst kommt von Kunst, S. 200.

[97] Zit. nach Jäger, Systemtheorie und Literatur I, S. 110.

[98] Vgl. Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 65f.

[99] Zit. nach ebd., S. 27.

[100] Vgl. ebd.

[101] Zit. nach ebd., S. 63.

[102] Jäger, Systemtheorie und Literatur I, S. 110.

[103] Zit. nach Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 67.

[104] Vgl. etwa Ort, Systemtheorie und Literatur II, S. 178.

[105] Vgl. Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 67ff., bes. S. 71f.; S. 19ff.

[106] Vgl. ebd., S. 72f.


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