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3.2.2 Differenzlogischer Ansatz (‚Leidener Modell‘)

Der differenzlogische Ansatz eines kommunikationsbasierten Textanalysemodells ist besonders mit den Namen Henk de Berg und Matthias Prangel verknüpft, die auf der Grundlage der Kommunikationstheorie Luhmanns eine „Reformulierung des Verhältnisses von Text, Kontext und Autorintention“[107] versuchen.

Ausgangspunkt ist Luhmanns Konzept von Kommunikation als Prozeß sinnhafter Selektionen, wobei jede aktuelle Selektion andere Selektionsmöglichkeiten ausschließt. Für den Leidener Ansatz liegt die Bedeutung dieser Konzeption in der radikalen Deontologisierung: „Das Bedeutende ist danach immer primär das in der aktuellen Rede Konstitutierte, nicht das objektiv in der Welt Existierende oder das intersubjektiv Vorausgesetzte.“[108] Die Welt ist, so schließt de Berg an Luhmann an, immer die Einheit einer Differenz von Aktualisiertem und Möglichem und wird von Moment zu Moment durch Selektionen reorganisiert. An diese Überlegungen knüpft de Berg vier Schlußfolgerungen an[109]:

1) Kein literarischer Text bildet eine Einheit, die sich werkimmanent erschließen läßt. Die semantische Identität erschließt sich nur über ihren Differenzcharakter.

2) Die Autorintention kann nicht als Bedeutungsdeterminante eines literarischen Texts betrachtet werden, da dies die Emergenz kommunikativer Differenzen unberücksichtigt ließe.

3) Die traditionelle literaturwissenschaftliche Forderung nach Kontextualisierung literarischer Texte verfehlt die historische Andersartigkeit der Texte, weil sie Text und Kontext de facto miteinander verschmilzt, ohne die spezifische Situierung des Texts im historischen Kontext herauszustellen.

4) Umgekehrt dürfen literarische Texte nicht als kontext- oder gar bedeutungsenthoben betrachtet werden. Sie bleiben stets an die Ausschlüsse, die ihre eigenen Selektionen erzeugen, an ihre ‚Negativfolie‘ (Prangel) gebunden:

Bedeutung entsteht also nicht erst in der Konfrontation von Texten und den an sie herangetragenen Kontexten ihrer Leser, sondern bereits über eine differenzielle Verankerung von Texten in ‚einer kommunikativen Konstellation, die der Textrezeption vorangeht‘ […].[110]

Die sich anschließende Frage, ob die Annahme einer ‚vorverstandenen‘ Textbedeutung nicht eine Reontologisierung der Luhmannschen Kommunikationstheorie bedeute, begegnet de Berg mit der Antwort, daß Kommunikation zwar in der Tat erst durch verstehende oder mißverstehende Anschlußselektion zustande komme. Allerdings müßten auch Texte an sich eine Bedeutung haben, da sonst der Unterschied Verstehen/Mißverstehen sinnlos wäre.[111] An diese Überlegungen anschließend, formuliert de Berg programmatisch:

Der Literaturwissenschaft stell[t] sich somit die Aufgabe der Rekonstruktion der historisch-ursprünglichen Textbedeutung (das heißt des Kommunikationsangebots), der verschiedenen kunstsystemischen, also selbstreferenziell aktualisierten Bedeutungen und eventuell der verschiedenen fremdreferenziell aktualisierten Bedeutungen.[112]

An gleicher Stelle fragt de Berg, einen diesbezüglichen kritischen Einwand vorwegnehmend, nach der Praxistauglichkeit dieses Ansatzes, möchte man nicht wieder auf traditionelle Text-Kontext-Modelle zurückgeworfen werden. Er gesteht zu, daß bisherige Anwendungsbemühungen dieses Problem eher umgangen haben, indem sie sich vorwiegend an der literarischen Produktion und somit an den beobachtungsleitenden Differenzen der Kommunikanden orientieren. „Damit sind sie de facto in die Nähe von sprechakttheoretischen Ansätzen geraten. Das ist insofern problematisch, als deren handlungstheoretische Orientierung systemische Aspekte eher ausblendet.“[113] Das literatursoziologische Moment der Beschreibung des Sozialsystems Literatur bleibt also unterbelichtet. Sill problematisiert diesen Punkt besonders hinsichtlich des Umstands, daß die Existenz eines Sozialsystems Literatur im Leidener Modell axiomatisch vorausgesetzt wird.[114]

Der Leidener Ansatz hat sowohl bezüglich der differenzlogischen Konzeption als auch besonders hinsichtlich der Suche nach einer historisch-ursprünglichen Bedeutung Kritik erfahren. So fragen Oliver Jahraus und Benjamin Marius Schmidt etwa nach Durchführungsbestimmungen einer Rekonstruktion der Negativfolie, vor der sich ein literarischer Text konstituiert:

Kann denn der negierte Horizont in seiner gesamten Spannbreite so weit methodengeleitet verfügbar gemacht werden, daß er in seiner konstitutiven Funktion ausgenutzt werden kann? Bleibt das Differenzschema nicht letztlich doch nur ein Postulat?[115]

In puncto ursprüngliche Textbedeutung konstatiert Sill lakonisch, daß im Leidener Ansatz der Kenntnisstand von Intertextualitätstheorien unterboten werde, nach deren Erkenntnissen Textbedeutung nicht in einer einmaligen, zeitpunktfixierten Konstellation gründe, sondern in einer „Summe potenziell unendlich vieler semantischer Differenzen.“[116] In diesem Zug beklagt denn Lutz Kramaschki auch das Fehlen der Einsicht, daß die differenzlogische ‚Pointe‘ der Kommunikationstheorie ebenfalls für die historischen Quellen gelte, die zur Analyse der Negativfolie herangezogen werden[117], so daß es unmöglich sei, in diesem unendlichen Verweisungshorizont eine ursprüngliche Bedeutung festzulegen. Weiterhin sieht Kramaschki in der Suche nach einer ursprünglichen Textbedeutung die Ausschaltung bzw. Invisibilisierung des Beobachters und seiner notwendigen Blindstellen. Armin Nassehi betont bezüglich der irreflexiven Ereignisgegenwart des Beobachtens, die für jede (auch textuelle) Kommunikation vorausgesetzt ist:

Mein Vorwurf gegen de Berg richtet sich also nicht nur wie derjenige Kramaschkis und Sills dagegen, daß überhaupt nach einer quasi-objektiven Textbedeutung gesucht wird, sondern noch elementarer dagegen, daß mit der Annahme einer in einer Ereignisgegenwart schon bestehenden Identität des Textes gerade die theoretischen Potentiale dessen, was im systemtheoretischen Kontext der Begriff des Ereignisjetzt – ähnlich wie Husserls Urimpressionalität – impliziert, verloren gehen.[118]


Fußnoten

[107] De Berg, Kunst kommt von Kunst, S. 189.

[108] Ebd., S. 190.

[109] Vgl. ebd., S. 191f.

[110] Ebd., S. 192.

[111] Vgl. auch Jahraus, Schmidt, Systemtheorie und Literatur III, S. 85f.

[112] De Berg, Kunst kommt von Kunst, S. 193.

[113] Ebd.

[114] Vgl. Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 79 (auch Anm. 28).

[115] Jahraus, Schmidt, Systemtheorie und Literatur III, S. 86.

[116] Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 81.

[117] Vgl. ebd.

[118] Armin Nassehi: Die Zeit des Textes. Zum Verhältnis von Kommunikation und Text. In: Henk de Berg, Matthias Prangel (Hrsg.): Systemtheorie und Hermeneutik. Tübingen, Basel 1997, S. 47–68, hier S. 56.


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