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3.2.3 Funktionsorientierter Ansatz I (Unterhaltung)

Der Adaptionsansatz, den Niels Werber und Gerhard Plumpe vertreten, geht von der Frage nach der Funktionsspezifik des Literatursystems und der Kritik an Luhmann aus, der die philosophische – funktional betrachtet: wissenschaftliche – Ästhetik für die Analyse der Selbstbeschreibung des Kunst- bzw. Literatursystems heranzieht.[119] Die Ästhetik müsse jedoch streng systemtheoretisch als Umwelt des Literatursystems begriffen werden, weshalb es (inklusive seiner Kodierung schön/häßlich) für die Selbstbeschreibung des Literatursystems nicht konstitutiv sein könne.

Dem stellen Plumpe und Werber für das Literatursystem den Binärkode interessant/langweilig entgegen, welcher mit der von ihnen entwickelten Funktionsbestimmung von Kunst und Literatur korrespondiert:

Unsere Behauptung ist: die Funktion der Kunst ist es, zu unterhalten. Die Systembildung der Kunst ist zu beschreiben als Ausdifferenzierung von Unterhaltung vor dem historischen Hintergrund der Entstehung von Freizeit als einem gesellschaftlichen Problem ungebundener Zeit.[120]

In der Folge, so Plumpe und Werber, entwickelt die immanente Logik des Systems eine Tendenz, das Interessante durch überraschende Selektionen noch interessanter machen zu wollen und somit alles Sagbare ins Extrem zu treiben. Für die Produktion von Neuem kann das System dabei entweder im System bereits Vorhandenes rekombinieren (Selbstreferenz) oder kommunikative Elemente der Umwelt selegieren und integrieren (Fremdreferenz). Im Zug der Themenimporte in die Literatur wird von der Literaturanalyse „die fundamentale Umstrukturierung der Teilsysteme, wie sie aus dem Übergang auf eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft resultieren, paradigmatisch nachverfolgt.“[121]

Dieser funktionsorientierte Ansatz, der systemtheoretisch Kodierungs- und Evolutionsaspekte kombiniert, wurde besonders in zwei Punkten stark kritisiert:

i) Sill stellt fest, daß der Versuch, mit dem Unterhaltungswert und der Leitunterscheidung interessant/langweilig die Binnenperspektive des Literatursystems zu bestimmen, nicht überzeugen kann, da er eine wertende Beobachtungsperspektive von außerhalb bleibt. Diese Funktionsbestimmung stößt in zwei Richtungen auf Widerspruch: Einerseits ist interessante Unterhaltung nicht allein eine Funktion der Literatur, sondern man erwartet sie „natürlich auch von Talkshows und Fußballspielen, von Diavorträgen.“[122] Es eröffnet sich damit die Frage, worin die Spezifik des Literatursystems besteht, wenn sie ihre Funktion offenbar mit anderen Funktionsbereichen teilen muß. Andererseits erklärt der Ansatz Werbers und Plumpes nicht das Phänomen etwa der Trivialliteratur, die – unzweifelhaft der Unterhaltungsfunktion verpflichtet – eben nicht durch überraschende Neuerungen, sondern durch Orientierung an bewährten Schemata charakterisiert ist. Für Sill liegt der Schluß nahe:

Anders gewendet: ‚Überraschende Selektionen‘ als interessant zu bezeichnen, impliziert einen bestimmten Literaturbegriff. Verborgen hinter einer Terminologie, die sich den Anschein sachlicher Feststellung von Differenzen zu geben versucht, wird wieder einmal ein dichotomer Literaturbegriff postuliert, der der alten Unterscheidung von ‚hoher‘ und ‚niederer‘ Literatur näher steht, als ihm lieb ist. Auf einen Nenner gebracht: Die Unterscheidung interessant/langweilig, so muss man wohl festhalten, ist signifikant mit Blick auf die literarischen Vorlieben des Betrachters; über das Spezifische aller literarischen Formen besagt sie nichts.[123]

In der Konsequenz sieht Sill in diesem Ansatz lediglich eine folgenlose Bereicherung des ‚Arsenals konkurrierender Kodierungsvorschläge‘, worauf in Abschnitt 3.2.5 Funktionsorientierter Ansatz II (Fiktionalität) noch einzugehen sein wird.

ii) Problematisch an der Konzeption Werbers und Plumpes ist die einseitige Funktionsorientierung, in deren Folge Literatur nur gewissermaßen als Korrelat gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen analysiert wird. Daher lobt de Berg Plumpes Werther-Interpretation[124] zwar als „höchst originelle Interpretation des Goethe’schen Erfolgsromans […], die allerdings in methodologischer Hinsicht unbefriedigend bleibt“[125], da sie letztlich auf eine ‚Widerspiegelungsthese‘ von Gesellschaft und Literatur hinauslaufe.[126] Damit neigt dieser Ansatz dazu, in der Literatur lediglich einen Reflex auf Umwelteinflüsse zu sehen, was einer systemtheoretischen Bestimmung der Eigenleistungen des Literatursystems zuwiderläuft. Denn solchermaßen bleibt nicht nur der Leistungsaspekt der Literatur für andere Funktionsbereiche unberücksichtigt, sondern auch die einzelnen Kunstwerke können in ihrer bedeutungs- und identitätskonstituierenden Differenz zu anderen innersystemischen Positionen nicht hinreichend erfaßt werden:

Das schließt keineswegs die Möglichkeit aus, Kunst und soziostrukturelle Entwicklung zu korrelieren, wenn man Kunstwerke als kontingente Reaktionen auf Umweltentwicklungen (und nicht als deren Widerspiegelungen) betrachtet und sie außerdem als Reaktionen auffasst, die sich erst über eine Abgrenzung von anderen Systempositionen in ihrer Bedeutung zu profilieren vermögen.[127]

Analog sehen Jahraus und Benjamin Schmidt dem Ansatz Plumpes und Werbers die Generalthese zugrunde liegen, daß sich soziale Strukturen über ein re-entry in literarische Strukturen und solcherart soziale Problematiken in ästhetische Semantiken[128] einschreiben: „Werbers Vorschlag läßt sich insgesamt als Vorschlag lesen, Immanenz (literarischer Kommunikation) als re-entry von Transzendenz (sozialer Strukturierung und historisch perspektivierter Entwicklung) zu begreifen.“[129] Für Jahraus und Schmidt stellt sich indes die Frage, ob angesichts der komplexen Kommunikationssituation in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft „die Welt als Umwelt des Textes und die dargestellte Welt des Textes nicht unüberbrückbar dissoziieren.“[130] Eine reine Sozialgeschichte des Literatursystems verlöre also die kunstimmanente Spezifik der Textwelt aus dem Blick.


Fußnoten

[119] Vgl. Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 88f. Diese Kritik wäre indes noch einmal zu überprüfen, da m.E. dieser Punkt bei Luhmann wenn auch nicht zufriedenstellend, so doch differenzierter betrachtet wird, als man es bei Werber und Plumpe wiederfinden kann; vgl. Kunst der Gesellschaft, bes. S. 434ff.

[120] Zit. nach Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 91.

[121] Jahraus, Schmidt, Systemtheorie und Literatur III, S. 81.

[122] Siegfried J. Schmidt, zit. nach Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 91.

[123] Ebd., S. 92.

[124] Gemeint ist der Beitrag von Gerhard Plumpe: Kein Mitleid mit Werther. In: De Berg, Prangel (Hrsg.), Systemtheorie und Hermeneutik, S. 215–231.

[125] De Berg, Kunst kommt von Kunst, S. 188.

[126] Die teilweise hoch gelobten Arbeiten von Dietrich Schwanitz, die hier weiter keine Berücksichtigung finden können, verfahren mit einer ähnlichen Tendenz zur Suche nach Spiegelungen von systemtheoretischen Theorieoptionen der Beschreibung sozialer Systeme und deren Anwendung auf literarische Texte, wobei die Systemtheorie mehr als ‚Denkanstoß‘ denn als kohärenter Theorierahmen genutzt wird; vgl. ebd., S. 201f., ausführlicher auch Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 83ff.

[127] De Berg, Kunst kommt von Kunst, S. 188f.

[128] Jahraus, Schmidt, Systemtheorie und Literatur III, S. 81.

[129] Ebd., S. 83.

[130] Ebd.


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