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3.2.4 Bewußtsein und Kommunikation

Der im folgenden besprochene Applikationsansatz ist zunächst besonders von Claus-Michael Ort im Rahmen der sog. Münchener Forschungsgruppe erarbeitet worden. Daran schließen sich später Überlegungen von Oliver Jahraus und Benjamin Marius Schmidt an, die diesen Ansatz kritisch weiterverfolgt und in Richtung des Problembezugs Bewußtsein/Kommunika­tion gewendet haben.

Ein grundsätzliches Problem der literaturwissenschaftlichen Applikation systemtheoretischer Optionen ist allgemein die bisherige Unvermitteltheit der Analyse von sozialer Praxis und sozialen Strukturen einerseits und literarischen Semantiken andererseits. Auf der einen Seite die sozialen, auf der anderen die symbolischen Systeme – dies sind die beiden Beschreibungsebenen, die in bis dato geleisteten Adaptionsversuchen nicht integrativ betrachtet worden sind, weil der Umstand ihrer wechselseitigen Irreduzibilität in der Konsequenz zur Favorisierung der einen unter Vernachlässigung der anderen Seite geführt hat.[131] (Die ELW verzichtet gänzlich auf Textanalyse, in anderen Modellen bleibt die gesamtgesellschaftliche Perspektive oft unterbelichtet.) Eine fruchtbare Applikation der Systemtheorie in der Literaturwissenschaft muß allerdings dem hier vorgestellten Ansatz zufolge die beiden wissenssoziologischen Zurechnungsachsen ‚Sozialsystem/soziale Praxis/Aktor‘ und ‚Symbolsystem/Diskurs/Text‘ integrieren können, mithin also auch mit semiotischen Analyserastern kompatibel sein.[132]

Den Ausweg aus der ‚texttheoretischen Selbstblockade‘ der ELW sieht Ort in dem Theorieangebot der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Hier erscheint Literatur (scheinbar) paradoxerweise aufgrund ihrer Ausdifferenzierung in der Moderne als hochgradig unwahrscheinlich, so daß zu fragen ist, welchen selektiven Mechanismen sie dennoch ihren anhaltenden Erfolg verdankt.[133] Allerdings weist Ort auch auf Probleme im Zusammenhang mit Luhmanns Kommunikationskonzept hin, besonders darauf, daß die ‚mikro- und makrosozialen‘ Funktionsbestimmungen der Kommunikation bei Luhmann aufgrund der Abstraktionslage letztlich allein in der Bestandsfunktion kulminieren, also der durch das Autopoiesis-Konzept nahegelegten Erhaltung des Systems durch systemeigene Operationen, hier: Kommunikation. Ort kritisiert:

Eine Übertragung derartiger Modellannahmen etwa auf die Kommunikations- und Hand­lungsprozesse eines Sozialsystems Literatur hätte demnach wenig spezifische Erklärungskraft und könnte lediglich anhand literarischer Kommunikation und anhand des Sozialsystems Literatur erneut illustrieren, daß besonders unwahrscheinliche soziale Autopoiese und Kommunikation auch besonders erfolgreich ist.[134]

Durch die im Fortgang der Theorie Luhmanns immer stärkere Logifizierung durch die Anlehnung am Formenkalkül Spencer Browns (vgl. auch Abschnitt 1.3 Medium und Form) sieht Ort die Gefahr, daß sich Luhmanns Theoriebildung letztlich im „differenztheoretischen Zelebrieren von Selbstreferenz und in den paradoxen Anwendungen binärer Unterscheidungen auf sich selbst (‚re-entrys‘) erschöpft“[135].

Für das Verhältnis von Systemtheorie, Literatur und Literaturwissenschaft hält Ort demnach dreierlei fest[136]: Zum einen müsse die Beziehung zwischen diesen drei Komponenten den theoretischen und empirischen Zugriff auf literarische Texte einschließen (dies gegen die ELW gerichtet). Zum zweiten empfiehlt Ort, für die literaturwissenschaftliche Nutzung von Angeboten aus der systemtheoretischen Soziologie und Wissenssoziologie eine Lockerung des Bezugs zur Luhmannschen Theorie, bis deren Konzeptionsprobleme bezüglich Kommunikation und Autopoiesis geklärt seien. Zum dritten solle seine Kritik nicht darüber hinwegtäuschen, daß bis dato auch Diskursanalyse und Semiotik zu den von ihm angesprochenen Problemen kaum Lösungen hervorgebracht hätten und „nur allzu oft jegliches interdisziplinäres Problembewußtsein vermissen lassen.“[137]

Worin liegt für Ort nach dem nun der Anknüpfungspunkt an die Systemtheorie? Er liegt in dem genuin soziologischen Anspruch der Theorien Parsons’ und dann Luhmanns. Diesen Anspruch sieht Ort in den kommunikationskonzeptuellen Ausführungen Luhmanns zwar verwässert, aber dennoch sei hier ausschöpfbares Potential vorhanden. Dies setzt allerdings eine ‚zeichentheoretische Nachrüstung‘ der Literaturwissenschaft voraus, da diese in der Luhmannschen Systemtheorie fehlt[138]; sie ist jedoch Bedingung für eine Literaturwissenschft, die nicht lediglich Systemtheorie auf Literatur applizieren möchte.[139] Eine systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft kann also nach Ort nur soziale und Symbolsysteme integrieren, wenn sie als „eine Art ‚Super-Hermeneutik‘“[140] die Theorie sozialer Systeme mit einer den literaturwissenschaftlichen Bedürfnissen angepaßten Zeichen- und Texttheorie koppelt.

An diese Überlegungen knüpfen Jahraus und Benjamin Schmidt an. Sie greifen jedoch nicht auf das Konzept des ‚Wissens‘ als Scharnier zwischen Symbol- und Sozialsystem zurück, wie es Orts wissenssoziologische Orientierung diesem nahelegte.[141] Vielmehr befinden sie die Aufrechterhaltung der Dichotomie von Symbol- und Sozialsystem für zu kurz gegriffen. Beide Ebenen lassen sich nämlich mit Luhmann als Dimensionen von Sinn begreifen: die Symbolebene als Sachdimension und die soziostrukturelle Ebene als Sozialdimension.[142] (Vgl. auch Abschnitt 1.3 Medium und Form.) Diese Feststellung bietet den theoriestrategischen Vorteil, das bisherige unvermittelte Nebeneinander von semiotischen/textbezogenen und system­theo­retischen/kommunikationsbezogenen Ansätzen als einseitige Bevorzugung der jeweils korrelierenden  Sinndimension zu verstehen, nicht aber als eine prinzipielle und unauflösbare Unvereinbarkeit beider Analyseebenen.[143]

Für Jahraus und Schmidt läßt sich hieraus eine weitere wichtige Konsequenz ziehen. Während die Semiotik einseitig auf die Referenzebene Bewußtsein und psychisches Verstehen abstelle und die soziologisch orientierte Literaturwissenschaft ebenso einseitig auf Kommunikation[144], biete die systemtheoretische Sinnkonzeption den Vorzug, beide Referenzbereiche im Verbund zu betrachten, da nach der Theorie Luhmanns sowohl psychische als auch soziale Systeme – auf jeweils spezifischer Operationsbasis – im Medium Sinn operierten.[145] (Vgl. auch Abschnitt 1.1 System und Umwelt.) Von hier aus bestimmen Jahraus und Schmidt „Literatur[,] als kommunikatives Interpretationsmedium in der Konkretisation schriftbasierter, literarischer Texte“, funktional als strukturelle „Kopplung zwischen Bewußtsein und Kommunikation in [bestimmter] medialer Konfiguration“[146].

Meiner Einschätzung nach weist dieser Ansatz von Jahraus und Schmidt besonders zwei Problempunkte auf, deren Darlegung in Ermangelung kompetenter Kritikquellen[147] hier auf eigene Verantwortung erfolgen muß.

i) Die Spezifik des Literarischen wird nicht deutlich. Laut Jahraus und Schmidt unterliege jeder Text dem Status einer kommunikativen Doppelung, insofern er – analog zur Differenz von Symbol- und Sozialsystem – einerseits Bestandteil und andererseits Gegenstand von Kommunikation sei:

Daran läßt sich eine nominalistische Bestimmung von Literatur nahtlos anschließen: Literatur bezeichnet – bezogen auf die Textreferenz – jene Teilmenge von Texten, die diese Ebenenverdoppelung, mithin den durch die [schriftliche] Substitution der Sprechsituation entstehenden Interpretationsspielraum systematisch ausnutzt und für ihre eigene Konstitution als Literatur funktionalisiert. Diesen Interpretationsbegriff vorausgesetzt, können wir auch sagen: Literatur ist ein kommunikatives und kommunikationsbasiertes Interpretationsmedium.[148]

Diese Feststellung bezüglich literarischer Texte kann durchaus als plausibel hingenommen werden[149] – sie gilt jedoch nicht weniger etwa für wissenschaftliche Texte. Besagte kommunikative Verdoppelung gilt, das sagen auch Jahraus und Schmidt offen, für jeden schriftlichen Text.[150] Das einzige Differenzmerkmal zwischen literarischen und anderen Texten allerdings, das sich in der zitierten Bestimmung des Literaturbegriffs ausfindig machen läßt, ist die nominalistische Setzung. Mag man sie gelten lassen, enthebt sie jedoch nicht von der – dann ebenfalls nominalistischen – Bestimmung der Differenzkriterien zu anderen Textgattungen. Ein wenig polemisch zugespitzt ließe sich dieser Kritikpunkt formulieren: Die zitierte Definition von Literatur vermag nicht einmal den Unterschied zwischen einem literarischen Text und sich selbst zu erklären.

ii) Die Konzeption von Sprache – und weiterhin von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien – als Medium der strukturellen Kopplung von Bewußtsein und Kommunikation ist keine Entdeckung, die nicht bereits bei Luhmann schon integraler Bestandteil der Theorie wäre.[151] Dies wird in der Rezeption gelegentlich ein wenig übergangen, weil Luhmann die Beobachtungsreferenz aus theoretischen Erwägungen bekanntermaßen eindeutig auf die Kommunikation beschränkt. Über die Tendenz zur Betonung des Bewußtseins vermittels der Referenz des Symbolsystems Text droht der Ansatz von Jahraus und Schmidt die konzeptionellen Besonderheiten Luhmanns einzuebnen. Auch die Betonung, daß Bewußtsein systemtheoretisch konform nur als nicht weiter zugänglicher Referenzpunkt des Symbolischen diene[152], klärt den Sachverhalt nicht weiter, denn wozu soll man sich stärker auf einen Referenzpunkt konzentrieren, von dem der eigene Theorieansatz besagt, er sei nicht beobachtbar?

Man kann die kommunikationstheoretischen Basisprämissen Luhmanns akzeptieren oder nicht, für beide Optionen ließen sich gute Gründe finden. Es wäre allerdings zu prüfen, ob der Ansatz von Jahraus und Schmidt – und vielleicht nicht nur dieser – nicht dazu tendiert, die Grundlagen der Theorie Luhmanns derart zu modifizieren oder gar aufzugeben, daß in der entstandenen Applikation Luhmann nur noch als ‚nominales Sediment‘ fungiert. Wozu aber diese Etikettierung, wenn der eigene Ansatz eine andere Richtung verfolgt und die Theorie Luhmanns – sicherlich überpointiert ausgedrückt – lediglich als terminologischen Steinbruch verwendet?


Fußnoten

[131] Vgl. Ort, Systemtheorie und Literatur II, S. 164.

[132] Vgl. Jahraus, Schmidt, Systemtheorie und Literatur III, S. 95.

[133] Zu dieser Gedankenfigur bei Luhmann vgl. auch Abschnitt 1.4 Kommunikationsmedien dieser Arbeit.

[134] Ort, Systemtheorie und Literatur II, S. 169. Vgl. bes. für die Luhmann-Kritik auch die Anmerkungen der Seiten 168ff.

[135] Ebd., S. 170.

[136] Vgl. ebd., S. 170f.

[137] Ebd., S. 171.

[138] Diese Forderung findet sich im Anschluß auch bei Oliver Jahraus: Unterkomplexe Applikation. Ein kritisches Resümee zur literaturwissenschaftlichen Rezeption der Systemtheorie. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 29 (1999), H. 113, S. 148–158, hier bes. S. 155f.

[139] Vgl. Ort, Systemtheorie und Literatur II, S. 172.

[140] Ebd.

[141] Vgl. Jahraus, Schmidt, Systemtheorie und Literatur III, S. 95f.

[142] Vgl. ebd., S. 99.

[143] Vgl. ebd.

[144] Vgl. zu diesem Vorwurf auch Jahraus, Unterkomplexe Applikation.

[145] Vgl. Jahraus, Schmidt, Systemtheorie und Literatur III, S. 99.

[146] Beide Zitate ebd., S. 101.

[147] Auch die ansonsten sehr gründliche Arbeit Sills läßt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Jahraus und Schmidt vermissen, ohne daß sich dafür Begründungen zumindest angedeutet fänden.

[148] Jahraus, Schmidt, Systemtheorie und Literatur III, S. 100.

[149] Sie sagt indes auch nichts Neues, denn daß Sprache und mithin Texte sowohl anderes als auch sich selbst thematisieren können und tatsächlich thematisieren, ist wahrlich keine unbekannte Einsicht.

[150] Vgl. ebd.

[151] Vgl. etwa Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?

[152] Vgl. Jahraus, Schmidt, Systemtheorie und Literatur III, S. 103.


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