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3.2.5 Funktionsorientierter Ansatz II (Fiktionalität)

Der Applikationsansatz Oliver Sills, der hier abschließend besprochen werden soll, basiert auf der These, die Kunstkonzeption Luhmanns beinhalte „zwei inkompatible Argumentationsketten, die auf zwei unvereinbaren Definitionen des Systems ‚Kunst‘ beruhen.“[153]

Auf der einen Seite stehen die binäre Kodierung und deren konzeptionelle Probleme. Sill zeigt auf, daß die Beiträge Luhmanns zur Kunst in ihrer Abfolge einem Prozeß wachsender Verunsicherung entsprechen.[154] Hielt Luhmann zu Beginn der 1980er Jahre  (vgl. Abschnitt 2.3 Funktion und Kodierung) noch an dem kunstleitenden Kode schön/häßlich fest, muß er zu Beginn der 90er Jahre bezüglich der Frage nach einem „übergreifenden binären Code“ konstatieren: „Das ist umstritten und wird häufig abgelehnt, besonders wenn man dafür die traditionsträchtigen Unterscheidungen von ‚schön‘ und ‚häßlich‘ anbietet.“[155] Und in der Kunst der Gesellschaft verlegt Luhmann dann die ästhetische Selbstbeschreibung der Kunst – in nicht ganz theoriekonformer Weise – in die philosophische Ästhetik; die Selbstbeschreibung der Kunst wird gewissermaßen ‚outgesourct‘.[156]

Trotz aller Kritik an Luhmanns Konzept zur Kodierung der Kunst – auch durch „die durchgehenden Proteste des Systems selbst“[157] – kann Luhmann aufgrund des theorieleitenden Postulats der funktionalen Äquivalenz und der darauf gegründeten Vergleichbarkeit der Teilsysteme nicht davon ablassen. Und auch die Luhmann-Rezeption umgeht das Problem der Kodierung oftmals einfach dadurch, daß sie der Fülle der alternativen Kodierungsvorschläge einen weiteren hinzufügt, anstatt das Konzept grundsätzlich zu hinterfragen, was Lutz Kramaschki zu dem polemischen Resümee veranlaßt: „Diese Bestimmungsversuche des literatursystemischen Codes vermitteln den Charakter fröhlichen Rätselratens und einer spontanen Beliebigkeit“[158].

Sill geht jedoch noch weiter. Er deutet nicht nur an, daß das Modell einer ästhetischen Binärkodierung zu kurz greift angesichts der Pluralität alternativer Ansätze, die Anlaß zu der Frage gibt, ob nicht das Spezifische der Literatur darin liegen könnte, daß sie keinem binären Schematismus unterworfen sei.[159] Vielmehr zeigt er in einem kurzen Überblick, daß die ästhetische Leitdifferenz von ‚schön‘ und ‚häßlich‘ bereits seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert normativ konnotiert war, was sich auch in der Folgeentwicklung der philosophischen Ästhetik fortsetzte. Hinsichtlich der Kodierungsvorschläge Luhmanns und seiner Exegeten hält Sill demgemäß fest:

Insofern ergänzen Ansätze, die mit Unterscheidungen wie avantgardistisch/nostalgisch [Schwanitz] oder interessant/langweilig [Plumpe, Werber] operieren, die Geschichte normativer Ästhetiken nur um ein weiteres Kapitel. […] Indem sie, nicht anders als Luhmann, auf wertende, unterschiedlichen Ästhetiken entlehnte Begriffe zurückgreifen, um in Form von ‚positiv/negativ-Codierungen‘ […] das Spezifische aller Literaturformen zu fassen, geraten auch sie unweigerlich in jenes Dilemma, in dem sich die philosophischen Ästhetiken insgesamt befinden: Literatur zu beobachten auf der Grundlage normativer Zuschreibungen und Ausschließungspraktiken.[160]

Der andere Konzeptionsstrang Luhmanns, den Sill als den anschlußfähigeren betrachtet, ist die Funktionsbeschreibung der Kunst für die Gesellschaft. Luhmann zufolge teilt das Kunstwerk die Realität in eine reale und eine fiktive Wirklichkeit, was ein beobachtungstechnischer Vorzug ist, insofern die ‚reale Wirklichkeit‘ – differenztheoretisch betrachtet – erst in Abgrenzung und im Unterschied zu einer fiktiven beobachtet werden kann. Diese Verdopplung der Realität leistet die Kunst (vgl. Abschnitt 2.2 Medien).

Sill knüpft nun zunächst an den Fiktionalitätsbegriff Wolfgang Isers an. Im Gegensatz zur tendenziell paradoxen Oppositionskonzeption Luhmanns bietet Isers Ansatz zur Fiktionalität eine ternäres Begriffsmodell an. Iser unterscheidet primär zwischen Realität und Imagination (Phantasie, Einbildungskraft etc.). Im Akt des Fingierens werden dann Realität und Imagination gleichermaßen wirksam, indem sie sich im Wechselspiel überschreiten.[161]

Mit anderen Worten: Imaginäres und Reales heben sich im Fiktiven des Textes wechselseitig auf. Die wiederholte Realität wird zum Zeichen für ein Imaginäres und das Imaginäre in der konkreten Gestalt des Textes vorstellbar als scheinbar Reales.[162]

Die Konzeption des Fiktiven als Zusammenspiel von Realem und Imaginärem „entlastet von dem Anspruch, ‚als Lüge und Täuschung‘ […] einen Gegensatz zur Realität bilden zu müssen.“[163] Zudem erlaubt sie nach Sill, die Spezifik der Literatur nicht– wie im Fall anderer Kommunikationsmedien – allein in der strukturellen Kopplung von Kommunikation und Bewußtsein (» Fiktionalitätsakt) zu sehen, sondern Literatur ermöglicht eine (durch das Kommunikationsmedium freilich operational überschneidungsfreie) Kopplung von Imaginationen.[164]

Um die literarischen von lebensweltlichen Imaginationen und Fiktionen unterscheiden zu können, koppelt Sill Literatur an das Medium Schriftlichkeit. Allerdings stellt er, analog zu anderen literaturwissenschaftlichen Ansätzen, fest, daß die Literarizität eines Textes nicht an diesem selbst oder immanenten Merkmalen zweifelsfrei erkennbar sei, sondern die Definition dessen, was als literarisch (= fiktiv) beobachtet werde, sei an konventionalisierte Wahrnehmungsmuster gebunden.[165] Die historische Dimension der Analyse des Fiktionsbewußtseins zeigt, daß die Ausdifferenzierung des Sozialsystems Literatur eng mit der Entwicklung eines bestimmten Wirklichkeitsverständnisses und in diesem Zug der Unterscheidung real/fiktiv einhergeht, an der sich dann sowohl Literaturproduktion als auch -rezeption ausrichten. Erst wenn diese Beobachtungsunterscheidung selbst wiederum der Beobachtung ausgesetzt werde, so Sill, könne beispielsweise die bis heute weitgehend gültige Neuordnung der literarischen Gattungen systemtheoretisch erfaßt werden, was sowohl Luhmann als auch etwa Siegfried J. Schmidt versäumt hätten.[166]

Sills Ansatz greift die systemtheoretische Konzeption eines autonomen Sozialsystems Literatur auf, modifiziert sie jedoch dahingehend, daß er im Gegensatz zu Luhmann die Autonomisierung des Literatursystems nicht als Freisetzung für eine spezifische Funktion konzipiert, sondern „als Freisetzung von allen unmittelbaren Funktionsanforderungen“[167], was wiederum der These korrespondiert, die Literatur folge keiner speziellen Leitdifferenz. Die Fundierung dieser These auf dem Fiktionalitätsmodell Isers erlaubt es Sill, den Literaturbegriff zu erweitern und sowohl als genuin fiktiv betrachtete Gattungen als auch sogenannte literarische Zweckformen unter den Begriff der Literatur zu fassen. Hierbei kann sich Sill auf umfangreichere eigene Forschungen zur Autobiographie stützen, wenngleich die Textbelege anderer literarischer Bereiche sehr knapp ausfallen.

Neben der Unterscheidung ‚künstlerischer‘ und ‚zweckgerichteter‘ Literatur wird auch eine Unterscheidung zwischen ‚hoher‘ und ‚trivialer‘ Literatur hinfällig, insofern die Konstellation ‚Reales–Imaginäres–Fingierung‘ noch nichts über die jeweilige Relation oder die inhaltliche Füllung besagt. Hier liegt allerdings die Gefahr, daß die begrifflichen Unklarheiten der rein kommunikationsbasierten Theorie Luhmanns ausgetauscht werden gegen einen Begriffsapparat, der sich, zumal durch Bezugnahme auf eher rudimentäre psychologische Modelle, in willkürlich anmutenden abstrakten Konzeptversuchen und Begriffskonfusionen verliert. Es sei exemplarisch eine Passage zitiert:

Wie oben bereits dargelegt, manifestiert sich nach Iser das Imaginäre in Wahrnehmungen und Vorstellungen, Tagträumen, Träumen und Halluzinationen. Das Bewusstsein trete erst dort auf den Plan, wo es darum gehe, das durch Willkürlichkeit gekennzeichnete Imaginäre in den Dienst bestimmter Intentionen zu stellen. So seien es ‚Erinnerung, Wissen und gegebene Information‘ […], die es erlaubten, der Vorstellung von Abwesendem und Nicht-Existierendem genauere Konturen zu verleihen. Die Vorstellung erscheint demnach als Produkt eines Zusammenspiels von Imaginärem und Erinnerung, wobei die Erinnerung, gepaart mit Wissen und Information, das Imaginäre überformt, begrenzt, vielleicht auch als dessen Gegenspieler fungiert.[168]

An diese Passage schließen sich eigene Ergänzungen Sills an, die das Thema Erinnerung weiter differenzieren. Es stellt sich jedoch – mit Jürgen Fohrmann gesprochen – „das Gefühl ein, daß [in diesem Punkt] der gesamte Thesenaufbau ebenso notwendig wie beliebig ist.“[169] Die theoretischen Schwierigkeiten mit Bewußtseinsprozessen werden zwar bei Sill nicht ausgeblendet, wie Luhmann es zumeist handhabt, aber auch nicht befriedigend problematisiert.

Allerdings bieten die Ausführungen Sills noch eine Vielzahl von möglichen und vielversprechenden Anknüpfungspunkten, die hier nicht ausgebreitet werden können. Die künftige Forschungsdiskussion wird zu zeigen haben, welches Anschlußpotential das Modell Sills besitzt.


Fußnoten

[153] Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 98.

[154] Vgl. ebd., S. 98f.

[155] Niklas Luhmann: Weltkunst. In: Ders., Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld 1990, S. 7–45, hier S. 29. Weiterhin räumt Luhmann den Nachteil dieser Kodewerttermini ein, daß sie „wie Direktiven oder Programme wirken, während der Sinn einer Codierung gerade darin liegt, dem System den Zugang zu beiden Werten […] offen zu halten.“ (Ebd.) Zur Kode-Programm-Problematik vgl. auch Abschnitt 2.3 Funktion und Kodierung dieser Arbeit, bes. auch Anm. 21.

[156] Vgl. Kunst der Gesellschaft, S. 268f., 438ff., sowie Abschnitt 2.4 Evolution und Ausdifferenzierung dieser Arbeit.

[157] Ebd., S. 310.

[158] Zit. nach Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 93.

[159] Vgl. ebd., S. 93f., 156.

[160] Ebd., S. 102f.

[161] Vgl. ebd., S. 126ff.

[162] Ebd., S. 129.

[163] Ebd., S. 128.

[164] Vgl. ebd., S. 189f.

[165] Vgl. ebd., S. 192f.

[166] Vgl. ebd., S. 212ff.

[167] Ebd., S. 249.

[168] Ebd., S. 143f.

[169] Jürgen Fohrmann: Einleitung. In: Ders., Harro Müller (Hrsg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 7–17, hier S. 15.


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