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3.3 Zwischensumme II

Natürlich kann aufgrund der bisherigen Darstellung kein abschließendes und generelles Urteil über die bisherigen Adaptions- und/oder Amalgamierungsansätze von Systemtheorie und Literaturwissenschaft abgegeben werden, auch wenn einige Hauptlinien deutlich geworden sein sollten. Neben den Kritikpunkten, die jeweils an entsprechender Stelle geäußert wurden, soll hier noch ein übergreifender Problembefund angesprochen werden, der sich auf den Umgang mit dem Primärmaterial, dem literarischen Texten bezieht.

Wie oben ausgeführt, verzichtet die ELW aus theoriegeleiteten Überlegungen heraus explizit auf die Analyse literarischer Texte. Andere Ansätze hingegen, besonders eher semiotischer Provenienz, betonen die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Primärmaterial. Aber: Beide Pole der Diskussion leben gleichermaßen in weitgehender Abstinenz vom Bezugspunkt Literatur. Auch die via Selbstbeschreibung textanalytisch oder zumindest ‚praktisch‘ orientierten Ansätze zeichnen sich durch einen erheblichen Mangel an detaillierter Textarbeit aus. Exemplarisch sei hier auf den „vielversprechenden Versuch“[170] Ekkehard Manns verwiesen.

Mann untersucht die Rolle der Literatur in der DDR unter Verwendung eines systemtheoretisch fundierten Ansatzes. Seinen Ausführungen zufolge lasse sich die gesellschaftliche Struktur der DDR als Restratifizierung begreifen, in deren Folge alle Funktionsbereiche in die Hände der (sozialistischen) Oberschicht fallen.[171] Mit der Ausbildung einer autonomen Literaturszene (‚Prenzlauer-Berg-Dichter‘) differenziere sich ein selbstreferentiell geschlossenes Literatursystem aus, das gleichsam im Schnelldurchlauf die westeuropäische Entwicklung der modernen Literatur seit 1800 und besonders der Avantgarde nachhole.[172] Wie immer man diesen Ansatz und seine Stichhaltigkeit im einzelnen bewerten mag, stellt er nicht mehr und nicht weniger als den Versuch einer Sozialgeschichte der Literatur für die DDR dar. Ein Blick in den Anmerkungsapparat des hier zitierten Aufsatzes zeigt, daß neben der Sekundärliteratur ausschließlich nicht-literarische Texte einzelner DDR-Autor(inn)en verwendet wurden. Nun ist der Bereich der Literaturgeschichtsschreibung ein wesentlicher Bestandteil des literaturwissenschaftlichen Fachbereichs. Daß es nicht dessen einzige Aufgabe sein darf, das Sozialsystem Literatur zu analysieren, fordern nun auch verschiedene der hier besprochenen Applikationsansätze. Die pragmatischen Versuche, wie der Ekkehard Manns – andere ließen sich benennen –, bleiben indes hinter dieser Forderung zurück.

Die ‚texttheoretische Selbstblockade‘, die Claus-Michael Ort der ELW bescheinigt (vgl. Abschnitt 3.2.1 Empirische Literaturwissenschaft), scheint ein Problem (fast) aller Applikationsversuche zu sein. Dies mag zum einen daran liegen, daß das systemtheoretische Abstraktionsniveau – auf das Luhmann bereits ‚warnend‘ hinwies[173] – bisher immer noch nicht in angemessener Weise auf der Ebene konkreter Textarbeit integriert werden konnte.

Ein anderer Grund liegt meines Erachtens in dem bemerkenswerten Umstand, daß die Diskussion um die Theorie selbstreferentieller Kommunikation selbst in hohem Maß selbstreferentiell operiert.[174] Oliver Sill verweist in der Einleitung seiner Habilitationsschrift auf das Diktum Jean Baudrillards: „[A]lle Theorien flottieren und haben nur den Sinn, sich gegenseitig zuzuwinken.“[175] Sill wertet dies positiv, insofern sich im Gruß die Bereitschaft zur wechselseitigen Anerkennung äußere zwischen Gesprächsteilnehmern, „denen im Dialog bewusst ist, dass die verhandelte Sache nicht nur durch die eigene Position, sondern durch die Beiträge aller Unterredner repräsentiert wird.“[176] Offenbar wird – im gleichen Bild gesprochen – hier jedoch übersehen, daß im Fall der Literaturwissenschaft die ‚verhandelte Sache‘ kein stummes, sprachloses Objekt ist. Die bisweilen poststrukturalistisch anmutende Hexenjagd auf alle vermeintlich hermeneutischen Residuen in der eigenen Tätigkeit führt zur Vernachlässigung einer der wichtigsten Implikationen des Luhmannschen Kommunikationskonzepts, die sich analog auch bei Hans-Georg Gadamer findet[177]: Verstehen bedingt Anschlußkommunikation, ist mithin ein dialogischer Vorgang. Das Aussetzen des ‚Dialogs‘ mit der Literatur, wie er in den dargestellten Applikationsansätzen zu beobachten ist, subtrahiert – systemtheoretisch formuliert – die Sachdimension des Verstehens. Die Ansätze verbleiben in einem sehr allgemeinen Bereich von (Literatur-)Soziologie, ohne sich den symbolischen Ordnungen der als literarisch beobachteten Texte nähern zu können.[178]

Als tendenzielles Fazit dieses Kapitels ist festzuhalten, daß nach den bisherigen Ausführungen bis dato die Adaptionsversuche von Systemtheorie und Literaturwissenschaft noch um einiges davon entfernt sind, der auch und besonders aus literaturwissenschaftlicher Sicht berechtigten Forderung Bourdieus zu begegnen nach

Theorien, die sich weniger von der rein theoretischen Rivalität mit anderen Theorien nähren als von der Konfrontation mit immer neuen empirischen Gegenständen; Begriffe[n], deren Funktion vor allem darin besteht, generative Schemata epistemologisch kontrollierter wissenschaftlicher Praktiken in stenographischer Kürze zu bezeichnen.[179]

Auch in der ‚Applikationsdiskussion‘ wird das Problem der übermäßigen theoretischen Selbstreferenz gesehen, weshalb man mit Ort feststellen müßte:

Textbezogenes Forschen könnte geradezu als empirischer ‚Selbstreferenz-Unterbre­cher‘ der systemtheoretischen Modellbildung in der Literaturwissenschaft fungieren, anstatt immer weitere Argumente für deren selbstreferentielle Kurzschließung zu liefern.[180]

Bislang ist es überwiegend bei dem Postulat geblieben.


Fußnoten

[170] De Berg, Kunst kommt von Kunst, S. 194.

[171] Vgl. Ekkehard Mann: ‚Dadaistische Gartenzwerge‘ versus ‚Staatsdichter‘. Ein Blick auf das Ende der DDR-Literatur mit systemtheoretischer Optik. In: De Berg, Prangel (Hrsg.), Kommunikation und Differenz, S. 159–182, hier S. 162ff.

[172] Vgl. ebd., S. 170ff.

[173] Vgl. Anm. 50 dieser Arbeit.

[174] Dieser Umstand wird auch im Schlußteil wieder aufzugreifen sein.

[175] Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1991, S. 21, Anm. 3. Sills Datierung dieser Sentenz bezieht sich auf eine deutsche Ausgabe; tatsächlich stammt sie aus dem Jahr 1976.

[176] Sill, Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft, S. 11.

[177] Vgl. eindrücklich: Die Kunst, unrecht haben zu können. Ein Gespräch mit Hans-Georg Gadamer. In: Ingeborg Breuer et al.: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie. Band 1: Deutschland. Darmstadt 1996, S. 105–115.

[178] Hier spielt sicherlich die systemtheoretische Angst vor quasi-ontologischen Setzungen im Zusammenhang mit Bestimmungen des Literarischen eine Rolle, was hier jedoch nicht weiter ausgeführt werden kann. Es gilt allerdings zu bedenken, daß auch und gerade ein Ansatz, der jegliche ontologische Essenz negiert, nicht umhin kommt, Setzungen – mit welchem ontologischen Status auch immer – hinzunehmen und selbst zu vollziehen, denn daß Ordnung möglich ist, zeigt nicht zuletzt auch jeder Text, der die Möglichkeit von Ordnung problematisiert. Im übrigen ist Luhmanns Basisprämisse der Existenz von Systemen (vgl. Soziale Systeme, S. 30) ebenfalls eine Setzung, die indes von den Exegeten niemals ernsthaft in Zweifel gezogen wird.

[179] Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 285.

[180] Ort, Systemtheorie und Literatur II, S. 178. Ort selbst stellt diese Forderung allerdings in einem anderen Zusammenhang.


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