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An-Schluß: Die schöne Wahrheit

Es wurde in dieser Arbeit versucht zu zeigen, daß die bisherigen Versuche, systemtheoretische Optionen für literaturwissenschaftliches Arbeiten fruchtbar zu machen, hinter den – und vor allem ihren eigenen – Erwartungen zurückgeblieben sind. Der Grund hierfür dürfte, neben den an jeweils gegebener Stelle angemerkten Problemen, meines Erachtens besonders in den zu hoch gesteckten Geltungsansprüchen liegen, die wiederum in engem Zusammenhang mit der zutage getretenen ‚texttheoretischen Selbstblockade‘ stehen.

Die dargestellten Ansätze sind trotz eines expliziten Problembewußtseins vor allen Dingen bemüht, Kriterien zur Definition des Literarischen schlechthin zu finden. Die dabei frequentierte Abstraktionsebene verführt dazu, die Spezifik des einzelnen Texts und somit der genuin philologischen Arbeit aus dem Blick zu verlieren. Daraus resultiert dann im nächsten Schritt eine „einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen“[181] – wenn überhaupt. Bezogen auf die literaturwissenschaftliche Arbeit der besprochenen Applikationsansätze, die sich zumeist in literatursoziologischen und -geschichtlichen Betrachtungen erschöpft, läßt sich demnach etwas zugespitzt die Kritik Wittgensteins an Augustinus’ Überlegungen zur Sprache übertragen:

Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muß man in so manchen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: ‚Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar?‘ Die Antwort ist dann: ‚Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst. / Es ist, als erklärte jemand: ‚Spielen besteht darin, daß man Dinge, gewissen Regeln gemäß, auf einer Fläche verschiebt …‘ – und wir ihm antworten: Du scheinst an die Brettspiele zu denken; aber das sind nicht alle Spiele. Du kannst deine Erklärung richtigstellen, indem du sie ausdrücklich auf diese Spiele einschränkst.[182]

Es zeigt sich nun die Bedeutung der in der Einleitung zu dieser Arbeit eingebrachten Werkzeugmetapher von Theorien. Ihre beobachtungsleitende Funktion erfüllt eine Theorie angemessen nur im Vollzug der konkreten Anwendung, auch und vor allem am literarischen Text. Natürlich ist die Frage, wodurch sich ein literarischer Text denn bestimme, erlaubt und klärungsbedürftig, allerdings sollte sie nicht zur Endstation der analytischen Bemühungen werden. Auch hier zeigt bereits Wittgenstein – dessen Implikationen in der Literaturwissenschaft nie hinreichend zur Kenntnis genommen wurden, daß es in der Kette der Erklärungen keine letzte gibt: „Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende.“[183] Man muß sich mit Gebrauchsdefinitionen bescheiden, und nicht zuletzt die Fülle unserer fachwissenschaftlichen Bibliotheken erweckt den Eindruck, daß dies bisher recht gut funktioniert hat. Die Absage an eine ontologische Letzterkläung (des Literarischen), die sich besonders die systemtheoretisch orientierten Ansätze zugute halten, scheint – trotz gegenteiliger Bekundungen, die einen bedeutenden Aspekt ihrer Selbstbeschreibung ausmachen – durch ihr Verharren in theoretischen Begriffserörterungen wieder in quasi-ontologische terminologische Forderungen umgeschlagen zu sein.

Daß es hingegen durchaus pragmatische Verwendungsmöglichkeiten systemtheoretischer Konzepte in der literaturwissenschaftlichen Arbeit geben kann, zeigt der Ansatz von Gabriele Hundrieser, der im folgenden kurz angesprochen werden soll.[184]


Fußnoten

[181] Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 593.

[182] Ebd., § 3.

[183] Ebd., § 1.

[184] Ich beziehe mich hier auf den bald veröffentlichten Aufsatz von Gabriele Hundrieser: Überlegungen zu Macht und Gewalt in Heiner Müllers Lehrstücken Philoktet, Der Horatier und Mauser, den sie mir freundlicherweise vorab als Typoskript (24 Seiten) zur Verfügung gestellt hat. Der Aufsatz enthält einige zentrale Gedanken ihrer ebenfalls demnächst erscheinenden Dissertation zu Macht und Gewalt im Werk Heiner Müllers.


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