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i. Macht und Gewalt – Ein Fallbeispiel

In einem Aufsatz untersucht Gabriele Hundrieser Macht- und Gewaltverhältnisse in Heiner Müllers Lehrstücken Philoktet, Der Horatier und Mauser. Die Arbeit geht von der offenkundigen Omnipräsenz des Themas Macht und Gewalt im Werk Müllers aus, die sich sowohl bereits in dessen Selbstäußerungen als auch in zahlreichen diesbezüglichen Hinweisen der Sekundärliteratur niederschlägt. Es ist Hundrieser zufolge allerdings festzustellen, daß eine grundlegende Untersuchung zum Thema Macht und Gewalt bei Heiner Müller bislang noch ausstehe, ebenso wie eine klare Konzeption bezüglich der Termini Macht und Gewalt auf der Höhe heutiger Theoriebildung.[185] Analysestrategisch ist hervorzuheben, daß die Untersuchung ihren Ausgang nicht bei einem Theoriemodell ihren Ausgangspunkt nimmt, zu dem Müller als Belegbeispiel herangezogen wird, sondern bei der Irritation durch die Texte:

Das dramatische Werk Heiner Müllers erscheint also geradezu prädestiniert für eine Untersuchung zum Thema Macht und Gewalt, seine Texte scheinen geradewegs dazu herauszufordern.[186]

Von dieser Herausforderung durch die Texte ausgehend, wird dann anhand der Luhmannschen Theorieoptionen eine systemtheoretisch fundierte Präzisierung des Macht-/Gewalt-Begriffs vorgenommen, auf die hier im Detail nicht eingegangen zu werden braucht. Nach Hundrieser ist der Rekurs auf das Theoriekonzept Luhmanns zwar kontingent, aber keineswegs willkürlich, da sie im Anschluß an Dietrich Schwanitz Theaterstücke als besonders prägnante Simulationsmodelle gesellschaftlicher Kommunikationen begreift.[187] Die Lehrstücke weiterhin seien für eine Untersuchung besonders geeignet, „weil sie in der Tradition Brechts den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft im abstrakten Modell ins Zentrum rücken“[188]. Auf der Basis des systemtheoretisch reformulierten Macht- und Gewalt-Begriffs fördert die Textanalyse nun Ergebnisse zutage, die keine Neugewandung bekannter Forschungsmeinungen in systemtheoretischen Termini darstellen, sondern diesen bisweilen diametral entgegenstehen. Ein Beispiel:

In Müllers Lehrstück Philoktet ist das Verhalten der Figur des Odysseus in ihrem Bemühen, Philoktet zur Rückkehr ins griechische Heerlager zu bewegen/zwingen, „nicht selten als in erster Linie zynisches Machtkalkül verstanden worden, dem alle Moral untergeordnet zu sein scheint“[189]. Hund­rieser stellt nun heraus, daß man mit ebenso guten Gründen in diesem Zusammenhang im Gegenteil von einer Krise der Macht sprechen könne, insofern die Einflußmöglichkeit Odysseus’ auf das Handeln Philoktets – also seine Macht – in dem Moment erlischt, als Philoktet zu verstehen gibt, er werde lieber die Sanktion (den Tod) in Kauf nehmen, als Odysseus’ Ansinnen Folge zu leisten. Mit dieser Neuinterpretation kann Hundrieser methodisch und textbezogen kohärent ein zentrales Umkehrmoment der Handlung aufzeigen – Odysseus bietet seinen eigenen Tod an, die Machtverhältnisse verkehren sich –, das in der bisherigen Forschung oft übergangen wurde.[190] Darüber hinaus korrespondiert dieser Deutungsansatz der Äußerung Müllers, Odysseus sei die eigentlich tragische Figur im Philoktet, womit er sich gegen die Negativzeichnung der Figur in westdeutschen Inszenierungen des Stücks wendet.[191]

Wie bei jeder Analyse dieser Art stellt sich letztlich die Frage, inwieweit die Analyseergebnisse den ‚Texttatsachen‘ entsprechen oder in den Text hineingetragene Beobachtungskonstrukte darstellen. Diese Frage kann hier nicht beantwortet werden.[192] Doch den Anspruch, Müllers Verständnis von Macht und Gewalt in demjenigen Luhmanns widergespiegelt zu finden, erhebt Hundrieser auch gar nicht. Als bedenkenswert und aussichtsreich ist hier vielmehr die konsequente Bidirektionalität der Beobachtungsverhältnisse festzuhalten: die ‚dialogische‘ Auseinandersetzung mit dem literarischen Text einerseits und die (Selbst-)Auf­forderung an die Adresse der Wissenschaft andererseits, den eigenen Begriffshaushalt in Ordnung zu bringen. In diesem konkreten Fall – und mehr wird nicht beansprucht – schien die Systemtheorie die besten Optionen zu bieten.


Fußnoten

[185] Vgl. Hundrieser, Überlegungen zu Macht und Gewalt …, S. 3ff.

[186] Ebd., S. 3.

[187] Vgl. auch Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma. Opladen 1990, S. 99f.

[188] Hundrieser, Überlegungen zu Macht und Gewalt …, S. 11.

[189] Ebd., S. 13.

[190] Vgl. ebd., S. 15.

[191] Vgl. ebd., S. 14, Anm. 51.

[192] Und es steht zu vermuten, daß die Unmöglichkeit einer diesbezüglichen Antwort einen nicht unwichtigen Aspekt der Überlebensfähigkeit der (Literatur-)Wissenschaft als Produktion von Anschlußkommunikationen ausmacht.


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