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4.2.2.1 Blitzkrieg Bop [228]

Der Song beginnt mit den Worten „Hey Ho, Let's Go“, die sich zu einer Art Schlachtruf entwickelt haben, der bei Konzerten von Fans skandiert wird, um die Band zum Beginnen, Fortfahren oder Zugaben spielen. zu animieren. Der Ausruf, mit dem der aus zwei Strophen und einem Refrain bestehende Text auch endet, spiegelt die Essenz desselben wider: Blitzkrieg Bop ist die Beschreibung eines Aufbruchs.

They're forming in a straight line
They're going through a tight wind
The kids are losing their minds
The Blitzkrieg Bop

Die „kids“, die in der dritten Zeile das erste Mal ausgesprochen, die aber bereits in den ersten beiden Zeilen impliziert sind, formieren sich, sie stehen zusammen und sind stark. Trotz dieser Einheit herrscht unter bzw. in ihnen Chaos und sie erleben das Gefühl des Rausches: „The kids are losing their minds.“ Die Titelworte „The Blitzkrieg Bop“ beenden die erste Strophe, die durchgängig mit Anaphern – einem Stilmittel, das zur Vereinheitlichung dient – beginnt. Dass es sich bei den „kids“ um Soldaten handeln könnte, zeigt sich durch den Ausdruck „straight line“ – in Reih und Glied stellen sie sich auf. Das Wort „Blitzkrieg“[229] drückt Aggressivität aus und der Umstand, dass die Soldaten in den Krieg ziehen müssen, mag dafür verantwortlich sein, dass sie äußerst nervös sind und gewissermaßen den Verstand verlieren. Die Verwendung einer solchen Kriegs-Metaphorik passt zur Symbolik des Punk, in der oftmals militärische Begriffe im Allgemeinen und Symbole der Nazis des 3. Reiches im Besonderen verwendet wurden.[230] Die letzte Zeile („The Blitzkrieg Bop“) verleiht dem Text ebenso wie der Ausruf „Hey Ho Let’s Go“ eine gewisse Rasanz: Die Aufforderung, loszulegen verdeutlicht dies ebenso wie die durch Schnelligkeit, Unberechenbarkeit und Härte geprägte militärische Taktik des Blitzkriegs.

Der Blitzkrieg als Metapher wird auch in der zweiten Strophe fortgeführt:

They’re piling in the back seat
They’re generating steam heat
Pulsating to the back beat
The Blitzkrieg Bop

Indem sich die "kids" auf dem Rücksitz "stapeln"[231], zeigt sich, dass es viele sind. Dass sich allerdings so viele von ihnen sehr wenig Raum teilen müssen, mag - ebenso wie die Möglichkeit, dass in dem Text doch nicht von Soldaten die Rede ist, sondern von "kids", von Kindern, die in den Krieg geschickt werden - als Kriegs-Kritik verstanden werden.

Die „kids“ sitzen auf dem „back seat“, also auf einem Rücksitz und produzieren „steam heat“ und hier möchte ich den Pfad der Kriegs-Interpretation kurz verlassen, denn: Dampfhitze („steam heat“) ließe sich zwar nutzen, um die zweite Strophe als Start eines Flugzeugs zu dem bevorstehenden Angriff zu interpretieren, jedoch ist es nicht ein solches Flugzeug, das den Dampf produziert, sondern die „kids“ selbst. Wenn die Produktion von „steam heat“ als Metapher für aufgestaute Energie, die zum Antrieb, zur Fortbewegung verwendet wird (die Funktionsweise von Dampfmaschinen bzw. Motoren) und der „back seat“ als Rücksitz eines Autos verstanden wird, ergibt sich eine weitere Lesart von den „kids“ als Jugendliche, die ausbrechen aus dem Alltag und der repressiven (Erwachsenen-) Gesellschaft, denn das Auto kann als Ausbruchsmöglichkeit gesehen werden, als Freiheitskatalysator und quasi-häuslicher Schutzraum, in dem die elterliche Kontrolle aufgehoben ist und Jugendliche ungestört Dinge tun können, die ihre Eltern ihnen zu Hause wahrscheinlich verbieten würden (vor allem zwischengeschlechtliche Intimitäten).[232] Die „kids“ aus „Blitzkrieg Bop“ hingegen nutzen das Auto zur Loslösung von ihren Eltern, wordurch es mit einer geistigen Freiheitssymbolik aufgeladen wird.

Durch diese Überlegungen ergibt sich eine neue Lesart der ersten Strophe: die Protagonisten müssen sich in gerader Linie aufstellen (dies wird ihnen durch die Gesellschaft, die sowohl schützend als auch repressiv sein kann, diktiert), die Gesellschaft formt sie, zwingt ihnen ihre Werte auf („They’re goin through a tight wind“ – sie werden den Federn eines Uhrwerks ähnlich aufgezogen) und schließlich entlädt sich die dadurch aufgestaute Energie darin, dass die „kids are losing their minds“, dass sie wild werden und die Reglementierungen der Gesellschaft nicht mehr akzeptieren wollen und zu neuen Ufern aufbrechen.

Eine dritte Lesart ergibt sich, indem dieser Aufbruch als Beschreibung der Aufbruchstimmung innerhalb der Punk-Bewegung verstanden wird. Dass es sich bei dieser um eine lebendige Bewegung handelt, zeigt sich am Wort „pulsating“, das das Pulsieren des Herzschlags beschreiben kann. Die „kids“ pulsieren aber zum „back beat“, womit eine Beschreibung der musikalischen Ausführung des Punk gemeint sein kann. Im „back beat“-Rhythmus liegt die Betonung auf den Zählzeiten 2 und 4 – diese Betonung ist üblich seit den Anfängen des Jazz und weiterführend in der Rock-Musik, zu der Punk Rock gehört. Die Verwendung des Wortes „Bop“ in der vierten Zeile jeder Strophe stellt einen genaueren musikhistorischen Bezug zum Jazz her. Der Jazz-Stil Be Bop, der sich an der Ostküste der USA entwickelte, ist in sehr schnellem Tempo gehalten und markiert den Beginn des Modern-Jazz. Seine Fortführung ist der Hard Bop, der durch eine Intensivierung der Rhythmus-Sektion mittels Verschiebung des Metrums und hierdurch Entwicklung des 1/8-Noten-Swing gekennzeichnet ist.[233] Somit stellt der Hard Bop eine Radikalisierung des Be Bop dar, die im Ausdruck „Blitzkrieg Bop“ noch weitergeführt wird: wie schnell und hart mag ein solcher Stil sein, wenn seine adäquate Beschreibung nur durch den Vergleich mit einer Kriegstaktik möglich ist? Das Herz der „kids“ hängt also an einer Musikform, die die radikale Erweiterung und somit Erneuerung von Altem darstellt – und dies sind auch Merkmale des Punk Rock. 

Auch der Refrain (der – wie auch die Strophen – zweimal gesungen wird) ist doppeldeutig:

Hey Ho Let’s Go
Shoot’ em in the back now
What they want, I don’t know
They’re all reved up and ready to go

Von dem Interpretationsansatz ausgehend, dass in dem Text die Attitüde der Punk-Bewegung beschrieben wird, könnte die Zeile „What they want, I don’t know“ die Heterogenität dieser Bewegung darstellen. Die Zielsetzung des Punk scheint (zumindest dem als Lyrisches Ich auftretendem Betrachter) nicht ganz klar. Allerdings muss überlegt werden, aus welcher Perspektive hier gesprochen wird. Über den ganzen Text hinweg wird von den „kids“ als „they“ gesprochen. Das Lyrische Ich ist also ein Außenstehender bzw. Beobachter der Szene, der im Übrigen dazu aufruft, den „kids“ in den Rücken zu schießen: „Shoot’ em in the back now.“ Vordergründig erscheint hier erneut Kriegskritik. Allerdings trifft man die Falschen, wenn man Soldaten in den Rücken ‚schießt.’ Sollten nicht ihre Auftraggeber bekämpft werden? Hier könnte auch ein Punk-Gegner sprechen, der sich durch die Punks in seiner bürgerlichen Moral und Uniformität angegriffen fühlt, obwohl er als Teil der bürgerlichen Gesellschaft und der Erwachsenen-Welt Mit-‚Verursacher’ des Phänomens der Punk-‚Soldaten’ ist.

Um wen auch immer es sich bei den „kids“ handelt, um reale Soldaten oder Mitglieder der Punk-Bewegung: sie sind „ready to go“, worin sich erneut Aufbruchsstimmung zeigt. Versteht man „Blitzkrieg Bop“ als Ausdruck der Rebellion gegen das Alte, Etablierte, erinnert der Text an den Film „Rock’n’Roll High School“, der von der Konfrontation der bürgerlichen Moral mit der jugendlichen Wut handelt.[234] Zwar fällt es schwer, die heterogene Punk-Bewegung mit dem streng geregelten und vereinheitlichten Leben von Soldaten zu vergleichen, andererseits hat das vorige Kapitel gezeigt, dass auch die Ramones gewissermaßen uniformiert waren und den Kleider-Code des Punk vor allem durch die immer getragene Lederjacke geprägt haben. Während reale Soldaten im Namen der bürgerlichen Gesellschaft kämpfen, gilt der Kampf  der Punk-‚Soldaten’ deren Moral und Repressionsapparat.

Egal zu welcher Interpretation die einzelnen Hörer bzw. Leser auch tendieren mögen: einen Aufbruch symbolisiert der Song schon allein aufgrund seiner exponierten Stellung im Gesamt-Oeuvre der Band, denn er wurde an erster Stelle des ersten Albums – gewissermaßen als Einleitung, Einführung – veröffentlicht. Somit wäre er, wenn man ihn als Sprechakt wertete, performativ. Menschen, die 1976 über das erste Album mit den Ramones in Berührung kamen, erlebten per Definition den Aufbruch in eine spezielle Gegend der Musikgeschichte mit.


[228] Erschienen auf: Ramones Ramones.

[229] Vgl Zwahr, Bd. 3, S. 60: „Blitzkrieg, überfallartiger Angriffskrieg von kurzer Dauer.“

[230] Vgl. Teipel und Kapitel 4.2.2.3.3 dieser Arbeit.

[231] Das Wort „pile“ bedeutet im eigentlichen Wortsinne „Haufen, Stapel“, im weiteren jedoch „sich häufen, zahlreich sein.“ Die „kids“ werden natürlich nicht wirklich gestapelt, sondern haben aufgrund ihrer Vielzahl sehr wenig Platz.    

[232] Vgl. auch den Film Rock’n’Roll High School, in dem die Figuren Tom Roberts und Kate Rambeau ihr erstes Rendez-Vous im Auto haben.

[233] Vgl. Bohländer, Carlos (u.a): Reclams Jazz-Führer, 1990 (4. Auflage): Stuttgart, Philipp Reclam jun. Verlag, S. 373 und S. 386.

[234] Vgl. Kapitel 4.3 dieser Arbeit.


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