[Inhaltsverzeichnis Band 1]

Eckhard Hammel

Migration mit Nietzsche und Deleuze/Guattari
Literatur gegen politische Idologie

„On ècrit l’histoire, mais on l’a toujours écrite du point de vue des sédentaires, et au nom d’un appareil unitaire d’Etat, au moins possible même quand on parlais de nomades.“ Deleuze/Guattari [1]

1. Politik

Gegenwärtig spielt das Thema „Migration“ in Politik, Medien und öffentlicher Diskussion eine nicht geringe Rolle. Die Gründe dafür liegen in realpolitischen Veränderungen, die mit der Zuwanderung von Menschen aus den Ländern des jungen Ostens der EU[2] und aus Ländern außerhalb der EU verbunden sind.
Das Thema ist in einer Zeit aufgekommen, in der sich ein arbeitender Ausländer, woher auch immer er kommen mag, nicht mehr „Gast“ nennen kann. Der traditionelle "Gastarbeiter" befand sich in einer Art volkswirtschaftlichem Exil und genoß - zumindest nominell - die Privilegien des eingeladenen Gastes, insbesondere einen gesicherten stationären Aufenthalt. Die traditionellen Verpflichtungen des Gastgebers haben ihre Gültigkeit in dem Maß eingebüßt, in dem die Sozialforschung den ehemaligen „Gastarbeiter“ zur flottierenden Figur des „Wanderarbeitnehmers“[3] hat mutieren lassen.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass in einem Zeitalter globalisierter Kommunikation - deren erweiterter Begriff für ein generelles Verschwinden menschlicher Arbeit in Folge der rechnergestützten Automatisierung von Produktionsprozessen einsteht[4] - alle, die wandern, potentielle Arbeitnehmer im Sinne tariflicher Lohnvereinbarungen sind. Die Skepsis ist öffentlich und erhitzt sich an Schlagworten wie: Immigranten, Aussiedler, Asylsuchende, Einwanderer, Zuwanderer, Wirtschaftsflüchtlinge, Fremdenfreundlichkeit und -feindlichkeit, Inter- und Multikulturalität und/oder kulturelle Identität, Integration, Einbürgerung usw.
Aus aller Herren Länder scheinen "border bandits" den wohlhabenden europäischen Territorien zu Leibe zu rücken: wenn nicht auf legalem Weg, dann als blinde Passagiere im Flugzeug, in Fracht-Containern auf Lastwagen oder großen Schiffen, paddelnd in kleinen Booten oder sonst wie.

Angeschürt durch kontinuierliche Medienberichte über abgefangene Illegale diskutieren die europäische Öffentlichkeit und ihre staatspolitischen Institutionen, wie diese „un-scheinbare“ Menschenflut zu kanalisieren und Grenzen deutlicher zu ziehen seien. Es bedarf keines besonderen spekulativen Talents, um zu erkennen, dass es dabei um Geld geht.[5] Neuerdings ist aber ein ganz anderer Aspekt in den Vordergrund gerückt: die Gefahr des Terrorismus. Bei diesem Thema geht es darum, potenziellen Terroristen den Eintritt unmöglich zu machen, denn auch die, so versichert man uns, kämen aus aller Herren Länder: als blinde Passagiere im Flugzeug, in Fracht-Containern auf Lastwagen oder großen Schiffen, paddelnd in kleinen Booten oder sonst wie – in seltenen Fällen auf legalem Weg...

Blättert man im Buch der deutschen Geschichte ein paar Jahrzehnte zurück, so wird man feststellen, dass das Thema Migration nicht neu ist. Es spielte allerdings in der Verkehrung eine Rolle: Zahlreiche Einwohner Deutschlands, die unter der Herrschaft des nationalsozialistischen Regimes aus Deutschland ausreisen mussten oder konnten, gingen „ins Exil“ oder emigrierten. Unter ihnen befand sich bekanntlich die crème de la crème der deutschen Intellektuellen: Wissenschaftler, bildenden Künstler, Literaten, Architekten, Schauspieler usw.: „Wanderintellektuelle“ auf der Flucht.
Damit bereitete sich ein Problem vor, das Jahre später die deutsche Literaturgeschichtsschreibung beschäftigen sollte. Abhängig davon, ob ein deutscher Asylant mit der Absicht ins Ausland ging, dort entweder temporär oder für immer zu bleiben, und ob er unabhängig von dieser Absicht tatsächlich dort blieb oder nicht, ging es darum, welche der in dieser Zeit entstandenen Werke als „Exilliteratur“ und welche als „Literatur von Emigranten“ bezeichnet werden solle. Wer mit den Geisteswissenschaften vertraut ist, weiß, dass sich an solche Fragestellungen ein Diskurs ohne Ende anbinden kann. Gleichwohl scheint der darob entbrannte Streit unterdessen beigelegt oder vielmehr aufgegeben worden zu sein. Die Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur stellt deshalb fest, dass die Begriffe „Exil“ und „Emigration“ heute „weitgehend synonym“ gebraucht werden.[6]

In diesem Themenfeld verstecken sich Implikationen, die der Politik und der politischen Ideologie zuzurechnen sind. Diesen Implikationen fällt auch das genannte Urteil aus dem Bereich der Literaturwissenschaft zum Opfer, obgleich doch gerade sie als Wissenschaft von der Literatur, die Voraussetzung dazu mitbringt, solche stillschweigenden Implikationen klar und deutlich zu benennen und dadurch eine Gegenführung zur (herrschenden) politischen Ideologie aufzumachen.

Zwar besitzen Exil und Emigration tatsächlich eine gemeinsame Grundlage[7], aber die hat nichts mit dem genannten synonymen Gebrauch in der Literaturwissenschaft zu tun. Die gemeinsame Grundlage ist realpolitischer Art. Sie besteht in den diskreten territorialen Objekten[8], die man üblicherweise Länder nennt. Diese territorialen Objekte machen die Grundlage des staatspolitischen Repräsentationssystems aus[9] - und zwar einschließlich der Frage nach der Legalität der Methoden, die vorgeben, wie Grenzen überschritten werden können und wie innerhalb abgesteckter Grenzen agiert werden darf.
Diese politische Reduktion territorialer Objekte auf "Länder", "Nationen" und ähnliches hat die Literatur nie grundsätzlich akzeptiert. Die Objekte der Literatur sind Zeichen, Worte, Texte, nicht mehr und nicht weniger, und derjenige, der sich in ihrer Welt bewegt, versetzt sich, wie Baudrillard es einmal ausgedrückt hat, "in die Position eines imaginären Reisenden".

Zunächst existieren "Flora und Fauna der Objekte" (Baudrillard) in faktischen Formen, die der Politik vorausgehen. So kann eine geographische Grenze durch ein Gebirge gesetzt sein, oder durch einen Fluss; beide können Territorien trennen oder teilen. Die Methoden eine solche Grenze zu überschreiten, gibt ein solches Objekt selbst vor: Man muss klettern oder schwimmen oder in Wechselwirkung mit technischem Gerät arbeiten können: Boote benutzen, Brücken bauen, Seilschaften bilden etc. Wer "Durchs wilde Kurdistan" reist, will nichts von Ländergrenzen zwischen Irak, Iran und Türkei wissen...
Die Grenzüberschreitung zwischen staatspolitischen Territorialobjekten ist durch die Prozeduren des Zolls und des Grenzschutzes gekennzeichnet und gegebenenfalls weitere Bedingungen oder Einschränkungen der Bewegung innerhalb eines Territoriums. Logische Grenzen wie die der „langages“ (Saussure) besitzen andere Methoden ihrer Überschreitung und Regeln ihrer Benutzung.
[10]Solche Grenzüberschreitungen heben das Begrenzte auf, entgrenzen und „deterritorialisieren“[11] es, ohne darum die Grenze selbst verschwinden zu lassen.

2. Anthropologie

In den Cultural Studies James Cliffords spielt der Themenkreis von Migration und Exil eine wichtige Rolle. Insofern er dazu beitragen könne, die „Multiplizität der Kulturen“ erfahrbar zu machen, ordnet Clifford ihn dem übergeordneten Kontext des Reisens („travel“) zu.

Auf dieser Grundlage untersucht er in seinem Essay „Notes on Travel and Theory“[12] – publiziert im Band 5 des von ihm und anderen herausgegebenen Magazins „Inscriptions“[13] - die Gemeinsamkeiten zwischen Reisen und Theorie. Das Resultat verrät er freilich bereits im Vorwort: „Theory travels; so do theorists“. Entsprechend vergleicht er die Theoretiker und Theoretikerinnen der Gegenwart – seien sie „’cosmopolitan’, ’postcolonial’, ’postmodern’, ’engaged’ etc.“ – mit Reisenden.

Sie bewegen sich zwischen multiplen „Locations“ bzw. „contact zones“[14], ohne eine gerade Linie einzuhalten. Dadurch werden sie mit einem System der „non-linear complexities“ und der „feedback-loops“ konfrontiert. Clifford fordert die Theoretiker nicht nur dazu auf, dieses System dessen innerer Verfassung gemäß in der Theorie zu repräsentieren; er fordert sie auch dazu auf, sich selbst diesen Verhältnissen anzupassen: Die Akteure (Reisende wie Theoretiker) werden entsprechend kosmopolitische Positionen einnehmen: „Discrepant cosmopolitanisms guarantee nothing politically. They offer no release from mixed feelings, from utopic/distopic tensions. They do however name and make more visible a complex range of intercultural experiences, sites of appropriation and exchange. These cosmopolitical contact zones are traversed by new social movements and global corporations, tribal activists and cultural tourists, migrant-worker remittances and E-mail... Nothing is guaranteed, except messy politics and more translation.“[15]

Clifford zitiert in signifikanter Position Begriffe, die den Diskursen der Naturwissenschaften und der Technik entlehnt sind und die hier paradigmatisch für die kosmopolitische Erfahrung stehen: „nicht-lineare Komplexitäten“ und „Rückkopplungen“. Komplexe Systeme, die eine nicht-lineare Dynamik besitzen, gehören in den Bereich der so genannten „Chaosforschung“. Clifford scheint diese Terminologie eher metaphorisch als technisch zu verwenden, in jedem Fall nicht ohne Legitimation, insofern sich die Reise „im Hier und Jetzt“ als ein Vexierspiel von Gewohntem und Ungewohntem, Geordnetem und Ungeordnetem, abspielt – unter der Bedingung des Ortswechsels, bei dem die „Locations“ wie Katalysatoren wirken mögen. Die nachträgliche Repräsentation erweist sich zumal als ein nicht wirklich kontrollierbares Vexierspiel aus Erinnern und Vergessen, Stabilität und Instabilität.

3. Literaturgeschichte

Indem Clifford die Begriffe „Migration“ und „Exil“ dem Oberbegriff des Reisens zuordnet, öffnet er den Blick für scheinbar marginale Implikationen dieses Themenkreises, die nicht ins Umfeld der Realpolitik gehören. Auch ermöglicht es der Begriff des Reisens, die Diskussion um Migration und Exil in einen vergleichenden historischen Rahmen zu stellen.

Nicht nur in der Lebenswelt gilt jemand mit Erfahrung als „bewandert“. Es zeigt sich darüber hinaus, dass die Verbindung von Denken (oder Theoriebildung) und Reisen innerhalb der Geschichte der Literatur Tradition hat. Dafür steht insbesondere das Motiv des Wanderns. Goethe, Schiller, Kleist, Heine, Büchner, Proust, Beckett – schier jeder der Dichter und Denker in Philosophie und Literatur lässt seine Figuren in entscheidenden Entwicklungsphasen wandern bzw. reisen. Einige Autoren des 20. Jahrhunderts wie etwa Jack Kerouac und Hubert Fichte werden das Reisen sogar von einer Funktion der Erfahrung, die das Schreiben bedingt, zu einem Telos ihrer Autorschaft und ihres Werks erheben.[16]

Ein Autor des 19. Jahrhunderts, in dessen Werk das Motiv des Wanderns in exponierter Weise immer wieder erscheint, ist Friedrich Nietzsche. (Zwar interessiert hier nur die literarische Dimension, doch mag es beachtenswert sein, dass Nietzsche selbst kein sonderlich sesshafter Menschen gewesen ist.) Als literarische unterscheidet sich die von ihm beschriebene Form der Migration auffällig von den Objekten und Methoden des juristischen bzw. staatspolitischen Apparats[17]:

  • „Vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterländern. So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heisse ich meine Segel suchen und suchen.“[18]
    Diese literarische Form der Migration ist auf Zukunft, auf Neues, auf Veränderungen, auf Werden, also auf Information, und nicht auf die Vergangenheit und auf das Sein hin ausgerichtet.

  • "(...) lieber auswandern, in wilden und frischen Gegenden der Welt Herr zu werden suchen und vor Allem Herr über mich selber; den Ort so lange wechseln, als noch irgend ein Zeichen von Sklaverei mir winkt". [19]
    Die Kontinuität der Veränderung garantiert eine Unabhängigkeit von Gewöhnlichem und Gewohntem, Redundantem. [20]

  • Der Abschnitt mit dem Titel Der Wanderer redet in der Fröhlichen Wissenschaft empfiehlt deshalb demjenigen „der wissen will, wie hoch die Türme einer Stadt sind“, sein angestammtes Territorium zu verlassen. Erst dann kann er „irgend ein Jenseits von Gut und Böse ersteigen, erklettern oder erfliegen“. [21]
    Die Überschreitung der Außengrenze des Gewohnten bildet die Grundlage der Erfahrung neuer, fremder Perspektiven und deren Verarbeitung zu Wissen.

  • “(...) der freie [Geist] (...) blickt (...) zurück, - dankbar seiner Wanderschaft (...) und Selbstentfremdung“ [22]
    Mit der Erfahrung des Neuen in der Außenwelt erneuert sich der Wanderer auch innerlich, das heißt er entfremdet sich in einer positiven Weise beständig von sich selbst.

  • In Zarathustra heißt es „Nicht fremd ist mir dieser Wanderer: vor manchen Jahren ging er hier vorbei. Zarathustra hieß er; aber er hat sich verwandelt.“ [23]
    Die kontinuierliche Veränderung der Außen- und der Innenwelt bewirken insgesamt eine Metamorphose des Subjekts.

A: Thema Komplexität
In Nietzsches Zarathustra korrespondieren die Systeme „Außen- und Innenwelt“ mit den Prozessen „Wanderschaft“ und „Selbstentfremdung“.[24] Diese Prozesse gleichen Lese- und Schreibvorgängen: Die Wahrnehmung sichtet die sich stetig erneuernden Szenarien der Außenwelt (die raumbasierten Änderungen der Objekte und Partialobjekte bzw. ihrer Eigenschaften und/oder Eigenschaftswerte), die von der Innenwelt und ihrer Erinnerung (die zeitbasierten Änderungen der Objekte/Partialobjekte bzw. ihrer Eigenschaften und/oder Eigenschaftswerte) neu bewertet werden. So können die Eigenschaften eines Objekts relativ zur Umgebung immer neue Werte gewinnen: klein, größer als, eine neue Farbe, eine Veränderung der Distanz… Aus jeder Perspektive gewinnt ein Objekt eine neue, unbekannte Eigenschaft hinzu. Die Objekte stehen in diesem System mit- und zueinander in einem komplexen System der Wechselwirkungen, die differenziert betrachtet werden können: nach statischen Komponenten wie Mustern und Relationen, dynamischen Komponenten, wie Veränderungen; und zwar auf den beiden Ebenen physischer und logischer Repräsentation, das ist der Bezug auf die Kopplung von Wahrnehmung und Erinnerung.

Das Neue verlangt der Migration damit eine kontinuierliche „Umwertung aller Werte“[25] ab, und zwar nach Nietzsche ausdrücklich auch aktiv-inzeptiv und nicht bloß passiv-rezeptiv: Zarathustras Wanderung beschränkt sich nicht auf ein Erdulden; sie provoziert gezielt die Veränderung. Beide Dimensionen greifen in rekursiver Wechselwirkung ineinander.

B: Thema Irreversibilität
Die Reise des literarischen Zarathustra ist zudem in doppelter Hinsicht unumkehrbar, irreversibel. Sie kennt zum einen weder eine reale oder imaginäre Heimat der Rückkunft, noch das Ziel im Sinne des vorweggenommenen Resultats der Reise. Zum anderen besitzt sie zwar die Methode eines aktiven Vergessens des Althergebrachten, die aber selbstverständlich nicht gleich zu setzen mit dem unmöglichen Ungeschehen-Machen des Vergangenen.

C: Thema Nicht-Linearität
Es versteht sich, dass diese Reise auf dem Hintergrund der skizzierten rekursiven Wechselwirkung non-linear verläuft, oder „multi-linear“ (Deleuze/Guattari), und zwar nicht nur im Hinblick auf Diskontinuitäten der Wahrnehmung und der Erinnerung, sondern sogar bis in die Details der konkreten Bewegungen des Wanderns hinein. Sie schließt keineswegs aus, dass man sich verläuft, den Weg also zurückgehen und einen neuen Versuch des Weiterkommens starten muss.

Schließlich handelt es sich um das krasse Gegenteil des Exils, jenem von Kant unter Verweis auf die altdeutsche Sprache beschriebenen Zustand, im „Aus-Land“ zu sein: im oder auf dem „Eiland“, das heißt im „Elend“.[26] Diese Form der verordneten Migration ist strukturiert durch die Kausalität von Bedingungen, die eine politisch relevante Geschichte bilden, an deren Ende sie steht. Zum anderen besitzt sie eine rückwärtig an der Heimat ausgerichtete Teleologie. Deshalb ist sie reversibel, selbst wenn sie die vielleicht unmögliche Heimkehr nur imaginiert.[27]
Auch die Literatur kennt diese reversible Form der Migration. Die Bekenntnisse des Augustinus dürften eins der bekanntesten Beispiele dafür liefern: Seine Wanderung durch die Welt entspricht insgesamt einer Rückreise aus dem apriorischen Exil der Weltlichkeit. Man liest von Irrwegen und Irrtümern, verlassen von den Gläubigen und Mitmenschen „a quibus nesciens exulabam“
[28], bis ihn die Entwicklung schließlich zurück auf den „richtigen“ Weg, auf den Heimweg zu Gott führt. „Knock knock knocking...“; Augustinus auf der Zielgeraden.

4. Gegenwart

1972 hält Gilles Deleuze einen Vortrag über Nietzsche und assoziiert auf eigenwillige Art Reisen und Reisende mit Theorie und TheoretikerInnen. Der Vortrag trägt den Titel Pensée nomade[29] und assoziiert Nomadentum und Denken: „Das Denken zu nomadischer Macht und Stärke zu erheben bedeutet (...) es (…) mit einer Geographie, es mit dem vielfältigen Werden und den Wegen zu versehen, von denen die Steppe durchzogen ist.“[30]

Im gleichen Jahr erscheint der erste Teil der zweibändigen Reihe Kapitalismus und Schizophrenie, verfasst von Deleuze und Félix Guattari. Dort heißt es wie paradigmatisch „on ne cesse de migrer“[31]. – Wem entspricht dieses „on“, das nicht aufhören kann zu wandern? Es ist klar – Deleuze/Guattari handeln bekanntlich über den Wunsch und die Wunschmaschinen – es sind die Menschen des Wunsches, und die haben vieles mit dem Wanderer Nietzsches gemeinsam: „Ces hommes du désir (ou bien n’existent-ils pas encore) sont comme Zarathousthra“[32].

Der Bezug der Autoren zum Motiv der Wanderung wird durch ihr eigentliches Thema bestimmt. Eine Analyse und Beschreibung des schizophrenen Prozesses, den sie nicht in erster Linie als ein pathologisches Phänomen, sondern vielmehr als ein literarisches Phänomen untersuchen. Dabei gehen sie so weit, diesen schizophrenen Prozess mit dem literarischen Prozess gleich zu setzen[33]. Mit Bezug auf Büchners Lenz und die Romanfiguren Becketts schreiben die Autoren deshalb: „La promenade du schizophrène : c’est un meilleur modèle que le névrosé couché sur le divan. Un peu de grand air, une relation avec le dehors.“[34] Oder an einer anderen Stelle: „Etrange littérature anglo-americaine : de Thomas Hardy, de Lawrence á Lowry, de Miller à Ginsberg et Kerouac, des hommes savent partir, broullier les codes (...). [35] Macht es wie Lot: nur nicht anhalten, nur nicht umdrehen und ganz bestimmt nicht zurück marschieren – der Reversibilität der „Holzwege“ zum Trotz, auf denen Heidegger, die Kalamitäten des Seienden durchwandernd, auf Richtung „Sein“ gehalten wird – „l’Amérique, le retour au pays natal“[36]? – Alles, nur das nicht!

Der pathologische, klinische Fall von Schizophrenie, wie ihn der psychologisch-medizinische Apparat beschreibt, ist nach Deleuze/Guattari eine sekundäre und kasernierte Form jenes produktiven schizophrenen Prozesses, wie er sich auf der Ebene der literarischen Repräsentation erhalten habe. In der gleichen Weise ist der politische Fall, wie ihn die juristischen und staatspolitischen Apparate beschreiben, Effekt einer Verdrängung und Verschiebung ihrer Repräsentation, die die Migration zum „politicum“ und zu einem integralen Bestandteil der politischen Ideologie im Zeitalter der Globalisierung hat werden lassen. Es ist nicht mehr diese freie Quaquaversalität,[37] wie sie der Migration und der Literatur zu eigen ist, sondern nur noch ihr Schatten, ein Prozedurenbündel auf der Ebene der staatspolitischen Repräsentation mit ihren territorialen Objekten und den Methoden und Funktionen der Bewegung auf und zwischen ihnen.[38]

Betrachten wir den Wanderer und seine Wanderung etwas genauer: Die von Nietzsche skizzierten Prozesse der „Wanderschaft“ und der „Selbstentfremdung“ bezeichnen Außen- und Innenwelt, die in ihrer abstraktesten Form aus ungeordneten Datenumgebungen in einem System bestehen, das kontinuierlich zwischen stabilen und instabilen Zustandsformen wechselt.[39] Aus den Umgebungen werden Daten entnommen, abgetrennt, einbehalten und/oder wieder abgegeben.[40] Dabei wirkt die Wahrnehmung, von Freud als Oberfläche bezeichnet, wie ein Arrangement von Filtern, das bestimmte Daten, die dadurch zu Signalen werden, zu Bewusstsein bringt, andere nicht. Zarathustra muss sich in diesem Punkt auf einen Automatismus verlassen: Mehr als in die Fremde ziehen, kann man nicht; ob man auf dem Hintergrund der Lust am Neuen den wünschenswerten Input erhält oder ob einen die Langeweile angähnt, ist zunächst unentscheidbar, ja, man weiß noch nicht einmal, ob das als langweilig Betrachtete (das Redundante) sich nicht irgendwann als sein Gegenteil entpuppt. Das eigentliche Problem Zarathustras besteht also darin, wie aus diesen Signalen Information generiert werden kann.
Das Subjekt der Migration empfängt von zwei Seiten Signale. In seinen Empfindungszuständen vermischen sich beide Welten. Dieses System der Wechselwirkungen besitzt alternierenden Stabilitätsverhältnisse, die sich einerseits zwischen den Objekten der Umgebung einstellen und andererseits zwischen den entsprechenden Eindrücken und deren Verhältnis zu Wahrnehmung und Erinnerung.
[41] Das ist keine solche Input-Output-Relation wie sie die staatspolitische Repräsentation auf ihrer juridischen Ebene darstellt, indem sie den Fall (Input) unter ein bestehendes Gesetz subsumiert (Output) – sondern eine multiple Input-Relation, die durch das Verhältnis von Außenwelt und Innenwelt zu Stande kommt. Der Informationsgehalt der Außenwelt wird bestimmt durch die Daten der Erinnerung und diese ihrerseits manipuliert durch die Daten der Außenwelt.
Motive wie „Wille“ und „Wollen“ besitzen in Nietzsches Philosophie ein hohes Gewicht. Aus Rücksicht auf eine historisch bedingte Zweifelhaftigkeit wollen wir diese Begriffe hier auf das Feld der Entscheidung reduzieren. In diese Richtung gewendet kann man mit Nietzsche nicht mehr tun, als (sich für) etwas zu entscheiden. Ob sich die Entscheidung umsetzen lässt, ob das Richtige entschieden worden ist, ob sich das Entschiedene einstellt usw. unterliegt einzig der Zeit, die es an den Tag bringen wird. Klar ist, dass man zu Hause bleiben kann, aber man kann sich auch dazu entscheiden, loszuwandern... Das Subjekt jedenfalls wird sich auf die Umgebungen einlassen müssen, aktiv wie passiv. Zwischen den Welten wird es selbst zu einer katalysierenden Schnittstelle, die sich attrahieren lässt und die selbst attrahiert. Es ist die Wanderung selbst, auf die es ankommt und zu der man sich entscheiden kann.

Die reine Migration, wie sie die Literatur zeigt, ist in erster Linie aktive Generation und passive Aufzeichnung[42] von Instabilität, mit einem anderen Wort: von Störungsverhältnissen: Objekte generieren und Eigenschaften und deren Werte bestimmen; in der Umkehrung: Parameter, Eigenschaften und die resultierende Kreation der Objekte erfassen; paradigmatisch-metaphorische Assoziationen (Verdichtungen, Kondensierungen) und syntagmatisch-metonymische Aggregationen (Verschiebungen, Displazierungen) katalysieren, bilden und auflösen; Kreativität; Klassifikationen und Prädizierungen vor- und wieder zurücknehmen. Grenzen ziehen und wieder destruieren oder nur überschreiten.[43] Alles wird von der aktuellen Wahrnehmung und der virtuellen (Erinnerung) in gleicher Weise bestimmt.

Und was hat die politische Repräsentation von der Migration übrig gelassen? Einen einzigen großen Channel von arm zu reich. – Zarathustra als hinkender Ödipus[44] – humpelnder Effekt des juridischen und staatspolitischen Apparats, der den Globus mit einer Matrix eingegrenzter Territorien überzogen hat. Der „Planet Earth“ ist zu einem globofinanziellen und organlosen „Planet Inc.“ verkommen, opak und undurchdringlich gegenüber einer Migration, die nicht mehr Grenzen aufhebt und neue zieht, die Matrix deterritorialisiert, sondern auf die imaginäre Grenze zielt, dort gestoppt wird und, nunmehr reversibel, spiegelverkehrt dorthin zurück läuft, von woher sie ihren Ausgang nahm. In dieser rückläufigen Wendung kehrt sich die Migration wie paradox gegen sich selbst und wird zur Exilierung: Indem der an der Grenze Gestoppte nach Hause geschickt wird, wird er ins Exil verbannt, vogelfreier Outlaw, homo sacer, symbolischer oder realer Tod[45]. Fortsetzung unklar.

Literatur

Agamben, Giorgio (WR): We Refugees, URL: http://www.egs.edu/faculty/agamben/agamben-we-refugees.html;
- (JM) Jenseits der Menschenrechte. Einschluss und Ausschluss im Nationalstaat, URL: http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/28/sub03a.htm [deutsche Übersetzung von WR]

Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, München, Zürich 1981 [Originalauflage 1967]

Augustinus (C): Confessiones, nach URL: http://ccat.sas.upenn.edu/jod/latinconf/latinconf.html
 -(B): Bekenntnisse, nach der Übersetzung von Otto F. Lachmann: Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, Leipzig 1888, zitiert nach URL: http://www.ub.uni-freiburg.de/referate/04/augustinus/bekennt1.htm
- (C_e): Confessions, nach der Übersetzung von Edward B. Pusey: The Confessions of Saint Augustine, zitiert nach der Project-Gutenberg-Version, URL: http://gutenberg.net/etext/3296

Baudrillard, Jean: Paßwörter, Berlin 2002 [Originalauflage 2000]

Bey, Hakim (AM): Against Multiculturalism. "Let a thousand flowers bloom" by Peter Lamborn Wilson & Mao Tse-tung (revised), URL: http://hermetic.com/bey/index.html (Writings as Peter Lamborn Wilson)

Birg, Herwig: Auswanderung und Kosten der Zuwanderung nach Deutschland. Gutachten im Auftrag des Bayrischen Staatsministeriums des Inneren, Bielefeld 2001, URL: http://www.herwig-birg.de/downloads/dokumente/Gutachten-Muenchen.pdf, vgl. http://www.stmi.bayern.de/imperia/md/content/ stmi/buergerundstaat/auslaenderrecht/birg_kurz.pdf

Bundeszentrale für pollitische Bildung: Migration, URL: www.bpb.de/expertendatenbank-migration

Clifford, James / Vivek Dhareshwar (eds.): Inscriptions, #5 „Travelling Theories, Travelling Theorists“, 1989, Preface, URL: http://humwww.ucsc.edu/DivWeb/CultStudies/PUBS/Inscriptions/vol_5/preface.html
- (N): Notes on Travel and Theory, in: ebd., URL: http://humwww.ucsc.edu/DivWeb/CultStudies/PUBS/Inscriptions/vol_5/clifford.html
- (ACC): A comment on Cosmopolitics. Thinking and Feeling Beyond the Nation. Pheng Cheah and Bruce Robbins, eds. University of Minnesota Press, 1998: 362-370.

Deleuze, Gilles (PN): Pensée Nomade, in: Nietzsche aujourd’hui, #1 Intensitées, Paris 1963
- (N): Nietzsche, Berlin 1979

Deleuze, Gilles / Félix Guattari (AŒ): Capitalisme et Schizophrénie, L’Anti-Œdipe. Paris 1972
- (AÖ): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie Bd. 1, Frankfurt/M. 1977
- (AOe) Anti-Oedipus.
Capitalism and Schizophrenia, Minneapolis 1983 [NY 1977]
- (MP): Capitalisme et Schizophrénie, Mille Plateaux.
Paris 1980
- (MP_d): Kapitalismus und Schizophrenie, Tausend Plateaus. Berlin 1992

Deleuze, Gilles / Claire Parnet: Dialoge, Frankfurt/M. 1980 [Originalauflage 1977]

Deutscher Gewerkschaftsbund. Bildungswerk, Bereich Migration & Qualifizierung, URL: www.migration-online.de

Deutscher Reisebüro und Reiseveranstalter Verband (DRV), URL: www.drv.de

Gates, Bill: The road ahead, London; NY (Penguin Books) 1996 [Originalauflage 1995]

Hammel, Eckhard (VR): Vom Verschwinden des Raumes der Arbeit, in: Arbeitsräume heute und morgen. Ideen, Texte, Gestaltungen zum Arbeitsplatz und seinem Umfeld 1990, hg. v. Siemens AG, Berlin; München 1991, S. 100-103

Hönekopp, Elmar: Arbeitsmarktperspektiven in der erweiterten Europäischen Union , in: Die Osterweiterung der EU, hg. v. LpB, Heft 1/ 2004, URL: http://www.lpb.bwue.de/aktuell/bis/1_04/arbeit.htm

Irigaray, Luce (S): Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt/M. 1980 [Originalauflage 1974]
- (DG): Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979 [Originalauflage 1977]

ITB Travel Technology (Messe Berlin), URL: www.tmsmessen.de/de/itb

Kant, Immanuel (MS): Metaphysik der Sitten

Kerouac, Jack: On the Road, New York 1976 [Originalauflage 1959]

Klingeberg: Was heisst multikulturelle Gesellschaft? In: Widersprüche 9 (1983)

Mackey, Nathaniel: Discrepant Engagement: Dissonace, Cross-Culturalism, and Experimental Writing, Cambridge 1993

Netzwerk Migration in Europa e.V., URL: www.network-migration.org

Nietzsche, Friedrich (Za): Zarathustra,
- (Za_e): Zarathustra [engl. Übersetzung]
- (M): Morgenröte
- (FW): Die Fröhliche Wissenschaft
- (MA): Menschliches, Allzumenschliches §5
- (UW): Umwertung aller Werte. Nachlass-Kompilation hg. v. Friedrich Würzbach,

P-Orridge, Genesis: Behavioural Cut-ups And Magick, in: Rapid Eye, ed. by Simon Dwyer, Vol.2, London 1992, p.126-134

Schwemmer, Oswald: Über das Verstehen des Fremden, in: Information Philosophie 4, Oktober 1995, S. 5-19

Sinn, Hans-Werner et al. in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht: EU-Erweiterung und Arbeitskräftemigration – Wege zu einer schrittweisen Annäherung der Arbeitsmärkte. Ifo-Beiträge zur Wirtschaftsforschung, Nr. 2, München 2001, URL: http://www.ifo.de/pls/portal30/docs/FOLDER/IFO_PORTAL/IFO_INSTITUT/NEUE_UNTERSUCHUNGEN_X_RECENT_IFO_STUDIES/NEUE_UNTERSUCHUNGEN_2001/MIGRATION.PDF

Waldenfels, Bernhard: Schatten der Aufklärung. Motive der französischen Philosophie im 20. Jahrhundert, in: Information Philosophie 1, März 1995, S. 18-27

Walter-A.-Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, URL: www.rrz.uni-hamburg.de/exillit/neueversion/exilinfo/zumgebrauch.htm

Wilson, Peter Lamborn: siehe Bey, Hakim

 


Fußnoten

[1] Deleuze/Guattari (MP) p.34; deutsch (MP_d) S. 39: „Geschichte ist immer nur aus der Sicht der Sesshaften und im Namen eines einheitlichen, zumindest eines möglichen Staatsapparates geschrieben worden, selbst wenn von Nomaden die Rede ist.“

[2] An diese Bedingungen knüpfen sich zahlreiche Kontroversen an, wie etwa der ökonomisch orientierte Streit zwischen Integrations- und klassischem Aussenhandelsmodell (vgl. Sinn; Hönekopp); der bevölkerungspolitisch motivierte Streit zwischen Kompensations- und Regenerationsmodell (Birg: Abschnitt 3); und das Tauziehen um das im EU-Vertrag verbriefte Grundrecht der „Arbeitnehmerfreizügigkeit“.

[3] Sinn: S. 163

[4] Hammel (VR) pass.

[5] Vgl. Birg: Kapitel 5 und 7 [der Autor teilt die Auffassung der Autorin nicht]

[6] URL: www.rrz.uni-hamburg.de/exillit/neueversion/exilinfo/zumgebrauch.htm

[7] Eine unübersehbare Differenz existiert hinsichtlich der Entscheidungsfreiheit des Subjekts. Die Exilierung stellt seit dem römischen ius exilii aus dem Jahr 171 v.u.Z. eine juridisch-staatspolitische Form der Strafe dar (die weniger dem Freiheitsentzug als vielmehr der Todesstrafe gleicht). Der Zustand des Exilierten ist demnach von seinem Kern her im hohen Grad unfreiwillig. Das Asyl hingegen kann gewährt werden, wenn der Asylsuchende im Heimatland physisch bedroht wird. Das Asyl stellt deshalb einen Zustand dar, der zwischen der Unfreiwilligkeit des Exils und der Emigration liegt. Bei der Entscheidung zur Emigration aus einem Land in ein anderes mögen verschiedene auch zwingende Gründe zählen: juridische, wirtschaftliche, ethnische, religiöse, kulturelle usw., dennoch besitzt die Emigration den höheren Grad an Entscheidungsfreiheit.

[8] „la première form de socius“ in: Deleuze/Guattari AOE: p.165; AÖ: S.179

[9] Agamben hat in seinen Arbeiten die Legitimation nationaler Grenzen in Frage gestellt, vgl. Agamben (WR), (JM)

[10] Die Diskurse der Sprachgrenze nach dem „linguistic turn“ sind davon nicht betroffen.

[11] Deleuze/Guattari: AÖ 299, vgl. Deleuze/Parnet S.78f

[12] Clifford (N) [Soweit nicht anders angegeben, sind die folgenden Zitate diesem Aussatz entnommen].

[13] Clifford / Dhareshwar

[14] Clifford (ACC)

[15] So schön diese Sätze im Ohr eines alternativ gebildeten Ethnologen auch klingen mögen; sie sind längst zum integralen Baustein der Tourismus-Branche geworden. Nicht nur ist das Travelling längst zum lukrativen Geschäft geworden; der Name der Messe „Travel Technology“ für Touristik-Software (www.itb-travel-technology.de) impliziert eine Aggregation: Indem man auf den Individualtourismus reagieren muss, preist man das Internet selbst als „flexiblen Urlaubsbaukasten“. Die Illusion individueller Traveller und nicht Massentourist zu sein, verdankt sich dem Dynamic Packaging einer auf den Massentourismus angelegten Technologie. (siehe http://www.tmsmessen.de/de/itb/pm_itb-13.02.04-kongr.htm)

[16] Jack Kerouac wird seinen verschlungenen 1900-Meilen-Reisereport (vgl. Kerouac: p.300) „On the road”, der ganze Generationen auf reale und imaginäre Wanderschaften schickte, der „one and noble function of the time, move“ (Kerouac: p.133) zuordnen. Mehr als dreißig Jahre später erscheint ein autobiographisches Buch, das eine gewisse Verwandtschaft mit Kerouacs Werk andeutet, aber doch den Geist einer neuen Generation transportiert und auf eine ganz andere Art die grenzenlosen Möglichkeiten des Neuen repräsentiert. Es trägt den Titel „The Road Ahead“ und zeigt auf dem Umschlag den Autor, Bill Gates, am Rand einer dieser schier unendlich langen und schnurgraden Straßen durch die nordamerikanische Savanne…

[17] Exil, Asyl, Verbannung, Deportation, Diaspora, Immigration, Emigration usw.

[18] Nietzsche (Za) Kap. 2 „Vom Lande der Bildung“; (Za_e) ch. II, „The Land of Culture“: „exiled am I from fatherlands and motherlands“.

[19] Nietzsche (M) § 206

[20] Deleuze vertritt die Auffassung, dass der wandernde Schatten des Zarathustra „die Aktivität der Kultur“ und der Kulturierten sei, die Zarathustra hinter sich gelassen habe und die ihm nur als Schatten zu folgen vermögen, ohne von ihm Besitz ergreifen zu können. Deleuze (N): S.50

[21] Nietzsche (FW) §380

[22] Nietzsche (MA) §5

[23] Nietzsche (Za) Teil I, §4

[24] Als Prozess meint „Selbstentfremdung“ eine positive Bewegung, die das Selbst fortwährend über sich hinaus führt, es geht also nicht um die dialektische Negation der Entfremdung durch ihre Aufhebung; es geht aber auch nicht die Frage, die Waldenfels im Anschluss an Levinas, Merleau-Ponty und andere stellt, wie das Fremde als solches im Gegensatz zum Eigenen (Selbst) zu denken sei (vgl. Waldenfels: S.24). Dass damit möglicherweise eine implizite Aneignung des Fremden verbunden ist, ist im Rahmen dieser Selbstentfremdung gar nicht das Problem, geht es doch vielmehr um Strategien zur Erweiterung des Bekannten (Selbst).

[25] Friedrich Würzbach hat diesen Begriff Nietzsches als Titel für seine Kompilation des Nietzsche-Nachlasses gewählt.

[26] Kant (MS) Rechtslehre §50

[27]Das schließt die produktive Funktion des Exils, die Louis Althusser mit Bezug auf Hannah Arendt beschrieben hat, nicht aus: Die revolutionäre Elite Russlands habe sich im Exil kultiviert, indem sie die politische Welt Westeuropas zwar in sich aufgenommen, aber in großer Distanz zu ihr die Sowjets hervorgebracht habe.

Besondere Bedeutung kommt den Arbeiten Luce Irigarays zu, die ausführen, dass die Frauen sich auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit innerhalb des Systems, das man Patriarchat, Phallogozentrismus oder schlicht Repräsentation genannt hat, a priori im Exil befinden. Sie empfiehlt den Frauen eine Art Guerilla-Strategie, die einer ironisch gebrochenen Migration innerhalb der Repräsentation ähnelt, vgl. Irigaray (DG) S. 31f, 78; (S) S. 94

[28] Augustinus (C) Liber IV, Caput XV; deutsch: „von welchen ich in meiner Unwissenheit hinweggeirrt war“ (B) Buch IV, 15. Kapitel, 2. Absatz; englisch: „I stood exiled“ (C_e) Book IV §25

[29] Deleuze (PN), deutsch in (N) S.105-121

[30] Das vollständige Zitat lautet: „Das Denken zu nomadischer Macht und Stärke zu erheben bedeutet (...) dem Denken absolute Geschwindigkeit zu verleihen, es mit einer Kriegsmaschine auszurüsten, mit einer Geographie, es mit dem vielfältigen Werden und den Wegen zu versehen, von denen die Steppe durchzogen ist. Nomadische Denker: Epikur, Spinoza und Nietzsche.“ Deleuze/Parnet S.38

Der nomadische Akteur muss sich nach Deleuze nicht wirklich „nach der Art von Wanderern“ (ebd.) bewegen.

[31] Deleuze/Guattari (AŒ) p.101; deutsch: „unaufhörlich wandert man“ (AÖ S.110).

[32] Deleuze/Guattari (AŒ) p.156; die englische Übersetzung setzt an Stelle der Klammern Gedankenstriche und ein zusätzliches Fragezeichen: „These men of desire – or do they not yet exist? – are like Zarathustra.“ (AOe p.131); die deutsche Übersetzung lässt die Klammerung ganz weg: „Diese Menschen des Wunsches sind wie Zarathustra“(AÖ) S.169

[33] „la littérature | est tout à fait comme la schizophrénie : un processus et non pas un but“, Deleuze/Guattari (AŒ) p.158-159; deutsch: „die Literatur ist ganz wie die Schizophrenie: Prozeß und kein Ziel“ (AÖ) S.172

[34] Deleuze/Guattari (AŒ) p.7; deutsch: „Das Umherschweifen des Schizophrenen gibt gewiss ein besseres Vorbild ab als der auf der Couch hingestreckte Neurotiker. Ein wenig freie Luft, Bezug zur Außenwelt.“ (AÖ) S.7. Im folgenden Satz „Par example la promenade de Lenz reconstituée par Büchner“ wird „promenade“ in der deutschen Übersetzung mit „Beispielsweise die Wanderung von Büchners Lenz“ wiedergegeben; englisch: „A schizophrenic out for a walk is a better model than the neurotic lying on the analyst’s couch. A breath of fresh air, a relationship with the outside world. Lenz’s stroll, for example, as reconstructed by Büchner“ (AOe) p.2.

[35] Deleuze/Guattari (AŒ) p.158; deutsch: „Fremdartige anglo-amerikanische Literatur: von Thomas Hardy, von Lawrence bis Lowry, von Miller bis Ginsberg und Kerouac wussten Menschen aufzubrechen, die Codes zu stören (...) Sie überschreiten eine Grenze, durchbrechen eine Mauer“ (AÖ) S.171; vgl. (MP) p.37, (MP_d) S.41.

Die amerikanische Literatur hat die Grenzen des Reisens noch weiter hinaus geschoben. Von Douglas Adams’ „Per Anhalter durch die Galaxis“ bis zu Star Trek und darüber hinaus steht dafür die literarische Gattung Science Fiction, insbesondere in Liaison mit dem Film. Ein Katalysator dieses Genres fällt ins Jahr 1968, in dem Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“ erscheint – eine bedeutende Geschichte mit einem bedeutenden und gewiss nicht unpassenden musikalischen Intro: Kubrick wählt eine Komposition von Richard Strauss: „Also sprach Zarathustra“.

[36] Deleuze/Guattari (AŒ) p.158; (AÖ) S.171

[37] P-Orridge: p.128

[38] Bey (AM) pass. Sie besitzt die harte Seite der polizeilich-juridischen Prozeduren und eine andere sanfte Seite, die unter dem Decknamen „Multikulturalität“ aufgetaucht ist. Hakim Bey hat diese Seite beschrieben und ist in seinen Überlegungen zu ganz anderen Ergebnissen als James Clifford gekommen. Der Diskurs über Multikulturalität sei das Resultat des Scheiterns des amerikanischen Integrationstraums, das scheinbar Brauchbare in den eigenen kulturellen Eintopf einzumischen und das scheinbar Unbrauchbare schlicht vergessen zu können. „Multikulti“ sei nur eine Mixtur aus falschem Universalimus und falschem Partikularismus; im Effekt Totalitarismus mit freundlichem Gesicht. „Let there be no mistake: multiculturalism is a strategy designed to save ‚America‘ as an idea, and as a system of social control.“ Mit Bezug auf Nathaniel Mackeys Begriff des „cross-culturalism“ schlägt Bey deshalb den Begriff „cross-cultural synergetics“ vor.

[39] vgl. Deleuze/Guattari: “Die Wunschmaschinen bilden binäre, auf binärer Regel und assoziativer Ordnung beruhende Maschinen” (AÖ) S.11

[40] vgl. Deleuze/Guattari (AÖ) S.53

[41] In dem Maß, in dem der Internationalismus in den ökonomischen Globalismus übergegangen ist, kann man mit Deleuze/Guattari sehen, dass sich die imaginären Grenzen als semipermeabel erwiesen haben. Verdichtet haben sie sich nur auf der Ebene der staatspolitischen Apparate. Andererseits sind sie durchlässig geworden gegenüber den virtuellen Kapitalströmen, die unter dem Schutz der WTO nach den Regeln der globalen Ökonomie eigene Grenzen ziehen und auflösen.

[42] Deleuze/Guattari: französisch “enregistrement”, deutsch “Aufzeichnung”, englisch “recording“

[43] Nach Deleuze kommt dabei dem Humor eine besondere Funktion zu. Deleuze macht exakt die Seite des Humors stark, die in der Hegelschen Dialektik als „subjektiver Humor“ schlecht weg kommt. Es ist dieses Hinüber- und Herüberschweifen, das Heterogenes zusammen bringt und Homogenes trennt. Für Deleuze ist er eine Waffe gegenüber der Statik der Repräsentation und ihren Apparaten. Deleuze/Parnet S.74f

[44] Deleuze (N) S.120: „Nietzsche lebte wie einer dieser auf ihren Schatten reduzierten Nomaden, indem er von einer möblierten Pension in die andere zog“.

[45] Drei BGS-Beamte hatten den Sudanesen Aamir Ageeb bei dessen Abschiebung am 28. Mai 1999 so stark in einen Flugzeugsitz gedrückt, dass er erstickte. Im Oktober 2004 wurden die Beamten zu je 9 Monaten auf Bewährung verurteilt, URL: www.ftd.de/pw/de/1097912316334.html

 


[Inhaltsverzeichnis Band 1]