[Inhaltsverzeichnis Band 1]

Katja Ludwig

Kritik des Sokratismus in der Geburt der Tragödie

„Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.“
Ludwig Wittgenstein [1]

1. Einleitung

Das Werk Friedrich Nietzsches[2] lässt sich grob in drei Phasen einteilen: Den frühen, den mittleren und den späten Nietzsche. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit einem Thema seines Frühwerks, der Kritik des Sokratismus in Nietzsches erstem Buch Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik[3]. Die weiteren Primärtextgrundlagen sind in der Hauptsache der Essay Der griechische Staat[4], den er nicht wie ursprünglich geplant ins Tragödienbuch aufgenommen, sondern zu einer Vorrede für einen noch zu schreibenden Text umgearbeitet hat, sowie das Fragment einer erweiterten Form der Geburt der Tragoedie[5]. Wenn in dieser Arbeit von Nietzsche die Rede ist, meine ich den frühen Nietzsche, was nicht ausschließen soll, dass er bestimmte Ansichten nicht auch in späteren Phasen vertreten hat.

Nietzsche sieht in Sokrates einen prototypischen Vertreter der von ihm angegriffenen Position. Hier soll nicht untersucht werden, ob dies eine treffende Zuschreibung ist, vielmehr möchte ich versuchen, die von Nietzsche ‚attackierte‘ Position, so, wie sie in den oben erwähnten Texten dargestellt wird, in ihren groben Zügen nachzuzeichnen. Es geht also um eine idealtypische Position, unabhängig von der Frage nach ihren realen Vertretern. In Kapitel 2 möchte ich wesentliche Aspekte dieses Standpunkts – theoretische Weltbetrachtung, Illusionskritik, Kultur- und Kunstauffassung sowie die aus den Wertprioritäten resultierenden politischen Forderungen – mit Nietzsches Position kontrastieren. Dies geschieht in einem ‚Gespräch‘ zweier fiktiver Personen, die jeweils einen der Standpunkte einnehmen, wobei es hier um die zugespitzte Darstellung geht, nicht unbedingt auf ein ‚Aufeinander-Eingehen‘. Im Unterschied zum dritten Kapitel soll hier der Kontrast gezeigt werden, den die beiden Standpunkte als Extrempositionen bilden. In beiden Teilen kann nicht auf alle der zum Teil mehrfachen Deutungsmöglichkeiten – etwa in einem wörtlichen und übertragenden Sinn – Rücksicht genommen werden, so dass im Bewusstsein behalten werden sollte, dass es teilweise zu vereindeutigenden Interpretationen kommt, die nicht immer als solche gekennzeichnet werden. Mit dem dritten Kapitel, in dem die beiden ‚Gesprächspartner‘ aus ihren vorigen Rollen heraustreten und sich gemeinsam der Kritik des vorher Dargestellten widmen, möchte ich zeigen, inwiefern die große Distanz der beiden ‚extremen‘ Standpunkte vor allem mit einem undifferenzierten Gebrauch bestimmter Begrifflichkeiten, Verabsolutierungen und illusionären Vorstellungen, etwa metaphysischen Überhöhungen, zusammenhängt. Es geht dabei auch um die Funktion solcher ‚Mechanismen‘. Aus Platzgründen können im Kritikteil nicht alle Aspekte aus dem vorigen Teil wiederaufgegriffen werden, deren Darstellung aber für das Verständnis der Positionen hilfreich ist.

2. Zwei Positionen

A: Ich stelle Nietzsches Position dar und werde stellvertretend seine Ansichten zu den erwähnten Themen vertreten.

B: Und ich vertrete in einem idealtypischen Sinne seine Gegenposition, so, wie sie in den hier zugrunde gelegten Texten Nietzsches dargestellt wird.

2.1. Tragische vs. theoretische Weltbetrachtung

A: „Tragische Weltbetrachtung“ (1,111) – das bedeutet beispielsweise, das Leid von Menschen, die Grausamkeit der Natur und die Sterblichkeit des Menschen zu akzeptieren und darüber hinaus als notwendig und unabwendbar, als nicht korrigierbar zu bejahen. Anders gesagt: „Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen und Morden ist eins.“ (1, 768) Grausame Wahrheit ist auch, „daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre“ (1, 767), worauf ich später noch näher eingehen werde.

Es gibt kein höheres Ziel des Daseins in einem metaphysischen Sinne, z.B. ein ewiges Leben des Menschen im Jenseits. „Welträthsel“ (1, 118) wie die Frage nach einem höheren Sinn des Lebens werden sich niemals, auch nicht bei größter Anstrengung der Vernunft,  lösen lassen. Die tragische Weltbetrachtung ist keine moralische – verstanden als eine Orientierung an als ‚höheres‘ Sein ausgegebenen moralischen Urteilen wie „X ist gut“ oder „X ist böse“ – sondern eine ästhetische, wobei ‚ästhetisch‘ nicht im Sinne von ‚schön‘ zu verstehen ist: Ich rechne mit „einer schöpferischen, quasi-künstlerisch verfahrenden Natur“[6] – in diesem Sinne lässt sich meine ‚mythische‘ Rede vom „Ur-Einen“ (1, 38) nämlich auch verstehen.[7] Das „Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, [braucht] zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein“ (1, 38), als welcher die „empirische Realität“ (1, 39) anzusehen ist. Bezüglich dieses Vorgangs ist das Schreckliche und Leidvolle notwendig, weil ohne es die Erlösung des Ur-Einen von seinem „Urschmerz“ (1, 39) nicht möglich ist. Meine Auffassung von Welt bleibt nicht auf der Ebene der Erscheinungen, bei der „empirischen Realität“ als dem „wahrhaft Nicht-Seienden“ (1, 39) stehen, sondern erkennt dies als vergängliche Manifestationen eines „Leben[s] im Grunde der Dinge“ (1, 56). Ich kenne die schreckliche „griechische Volksweisheit“ des Begleiters des Dionysos, Silen: Dieser, zur Antwort auf die Frage, „was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei“, sagt „unter gellem Lachen“:

‚Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben‘. (1, 35)

B: Meine Position lässt sich dagegen als „theoretische [...] Weltbetrachtung“ (1, 111) bezeichnen. Ich gehöre, wie Sokrates, zum „Typus des theoretischen Menschen“ (1, 98). Nietzsche sagt, in Sokrates sei „die logische Natur durch eine Superfötation eben so excessiv entwickelt […] wie im Mystiker jene instinctive Weisheit.“ (1, 90) In Sokrates erblickt er „das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift.“ (1, 100)

Meine Weltbetrachtung ist eine moralische: Ich glaube an „den Sieg der sittlichen Weltordnung“ (1, 142) und habe die „Auffassung des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen“ (1, 122). Mit meiner Position ist ein „unumschränkt sich wähnende[r] Optimismus“ (1, 117) verbunden, dessen drei Grundformen sich in den sokratischen Sätzen „‚Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche‘“ (1, 94) äußern. Ich habe den „unerschütterlichen Glaube[n], dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigieren im Stande sei“ (1, 99). Die Vernunft kann das Leid meines Erachtens aus der Welt schaffen.

A: Das muss ich von meiner Position aus als einen „metaphysische[n] Wahn“ (1, 99) mit schwerwiegenden Folgen bezeichnen. Das, woran die von mir so hoch geschätzte attische Tragödie zugrunde ging, ist „der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen“. (1, 12)

B: Ich dagegen glaube „an die Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel“ und behandele „Raum, Zeit und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster Gültigkeit“ (1, 118). In der sokratischen Kultur nimmt die Wissenschaft die höchste Stelle ein. Diese „im tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft, mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze“, ist der bedeutendste Gegner der „tragischen Weltbetrachtung“ (1, 103).

A: Anders als in der „degenerierten“ (1, 112) sokratischen Kultur wird in der von mir angestrebten tragischen Kultur

an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt […], die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigene Leiden zu ergreifen versucht. (1, 118)

B: Ich glaube, dass „das Erdenglück Aller“ (1, 117) erstrebenswert und durch den uneingeschränkten Vernunftgebrauch auch möglich ist. Meinem Weltverständnis erscheint das Dasein als mit der Vernunft erfassbar und eben dadurch gerechtfertigt.[8] Außerdem gibt es für mich keine höhere oder andere Realität als die empirische.

A: Wenn ich mich auf Kant beziehen darf: Mit Ihrer letzten Aussage setzen Sie die „blosse Erscheinung […] an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge“ und machen „die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch unmöglich“! (1, 118)

2.2. Illusionsbedürftigkeit vs. Vernichtung des Mythos

B: Ich bin der Auffassung, dass der Mensch ohne Illusionen leben kann und auf diese Weise ein besseres Leben führt. Meine Position ist auf die radikale „Vernichtung des Mythus“ (1, 146) gerichtet, durch den „rastlos vorwärtsdringenden Geist[…] der Wissenschaft“, den ich unterstütze, wurde „der Mythus vernichtet“. (1, 111) 

A: Was, wenn der Mensch Illusionen aber braucht? Davon gehe ich aus. Er kann ohne sie nicht leben, weil er sonst die von ihm erkannte Wahrheit nicht aushält und das Leben verneint. Der Kultur, um deren höchst mögliche Entwicklung es mir geht, kann die Vernichtung des Mythos, unter dem ich „sowohl den eigentlichen griechischen Mythos […] wie auch, allgemeiner, Ideologien“[9] verstehe, nur Schaden zufügen: „Ohne Mythus […] geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab.“ (1, 145) Aber es gibt „ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen.“ (1, 115) Und so ist  Ihre „sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können“ (1, 115), selbst nur eine Illusion, die Sie zum Weiterleben zwingt, die Sie aber nicht als solche erkennen! Wissenschaftlichkeit ist bloß „eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus“, eine „Nothwehr gegen – die Wahrheit“ (1, 13). Allerdings gibt es für die Kultur weitaus förderlichere Illusionen als die Ihrigen: Etwa „[d]er metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst“ (1, 115), welcher zu einer tragischen, nicht zu einer sokratischen Kultur passt.

2.3. Genius, hohe Kultur und Kunst  vs. „Weide-Glück der Heerde“[10]

A: Die Wertentscheidung, die meiner Position zugrunde liegt, lässt sich so beschreiben: Mir geht es darum, die höchst mögliche Kulturstufe zu erreichen, die ‚wahre‘ Kultur. Die Kultur der Griechen in der Entwicklungsphase, in der die attische Tragödie als größtes Kunstwerk blühte, kann uns dafür als Vorbild dienen. Das Gedeihen der Kultur ist mein oberstes Anliegen. Eng damit zusammen hängt meine besondere Wertschätzung des Genius: „Es gibt keine höhere Kulturtendenz als die Vorbereitung und Erzeugung des Genius.“ (7, 355) Er ist der seltene, ‚große‘ und schöpferische Mensch, der allein die beste Kunst schaffen kann. Solche Menschen mit einer ‚starken‘ Persönlichkeit streben nach Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Selbstbestimmung und wollen ihr menschliches Potential ausschöpfen. Die meisten anderen – ‚schwache‘ Persönlichkeiten – machen es sich lieber bequem und vermeiden die Anstrengungen, die mit der persönlichen Weiterentwicklung verbunden sind. Das „ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann“ (5, 61), das ich ablehne.

B: Der große Einzelne, die Entwicklung der Kunst und Kultur ist bei mir dem Wohlergehen der Masse untergeordnet. Es sollen Gerechtigkeit und Gleichheit herrschen: Gleiche Rechte und Pflichten, „Gleichmaaß des Leidens“ (1, 768). Wenn viele Menschen leiden, „um einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen“ (1, 767), kann ich das nicht akzeptieren. In diesem Sinne muss ich Kunst und Kultur sogar verachten.[11]

A: Ich bin mir sogar sehr sicher, dass es um nichts anderes als den Genius gehen kann: Er ist „Zielpunkt und letzte Absicht der Natur“ (7, 336). Die „olympische Existenz und immer erneute Zeugung des Genius“ ist auch „das eigentliche Ziel des Staates.“ (7, 348). Nur das Schaffen des Genius kann das Ur-Eine von seinem Urschmerz erlösen, und nur darum geht es ja: „dies ist die Verzückungsspitze der Welt“ (7, 199f). Wenn die „Lichtbilder (1, 65) in der dunklen Nacht des tragischen Lebensgefühls“ nicht mehr existieren können, dann verschwindet damit „auch, nach dem Tode Gottes, der noch verbliebene Sinn.“[12] Denn „Weder der Staat, noch das Volk, noch die Menschheit sind ihrer selbst wegen da, sondern in ihren Spitzen, in den großen ‚Einzelnen‘, den Heiligen und den Künstlern liegt das Ziel, also weder vor noch hinter uns, sondern außerhalb der Zeit.“ (7, 354) Der Genius ist „nicht der Menschheit wegen da, […]: während er allerdings derselben Spitze und letztes Ziel ist.“ (1, 355) Eine dementsprechende Erneuerung unserer gegenwärtigen degenerierten Kultur verspreche ich mir vom „deutschen Wesen“ (1, 146). Eine solche Kultur, in der alle Potentiale ausgeschöpft sind, ist möglich: Unter den Griechen hat es sie schon einmal gegeben. Die „Wiedergeburt der Tragödie“ (1, 103) ist dabei nichts anderes als „eine Rückkehr“ des „deutschen Geist[es …] zu sich selbst“ (1, 128). Diese Rückkehr ist möglich, da das „deutsche[…] Wesen“ zum Glück „mit seiner [gegenwärtig degenerierten, K.L.] Cultur“ noch nicht „unlösbar verstrickt, ja eins geworden“ (1, 146) ist, wie das etwa in Frankreich der Fall ist. Ich bin zuversichtlich:

welche Hoffnungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspicien […] das allmähliche Erwachen des dionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! Es ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen Frohndienste der Omphale erschlafft. (1, 127)

Ich verbinde „meine Hoffnungen für diese Wiedergeburt mit der gegenwärtigen blutigen Glorie des deutschen Namens“ (7, 353f): Der deutsch-französische Krieg ist ein gutes Zeichen dafür, dass der „militärische[…] Genius“ (1, 775) in die Kultur eingebrochen ist, um den Staat von seiner „Geldtendenz“ (1, 774) zu reinigen und dionysische Energie freizusetzen.

B: Kommen wir lieber zur Kunst! Mit meiner Weltbetrachtung und meinen Werten korrespondiert auch eine entsprechende Kunstauffassung bzw. ein von meiner Position aus bevorzugter Kunsttyp: Ich möchte diesen den „aesthetischen Sokratismus“ (1, 85) nennen, dessen Grundsatz ist: „‚alles muss verständig sein, um schön zu sein‘; als Parallelsatz zu dem sokratischen ‚nur der Wissende ist tugendhaft.‘“[13] (1, 85)

A: Das ist mit dem, was ich anstrebe, nicht vereinbar. Die höchste Kunst ist diejenige, in der das „Apollinische“ und das „Dionysische“ (1, 25) miteinander vereint sind, wie in der attischen Tragödie. Apollo und Dionysos, die beiden „Kunstgottheiten“ (1, 25) stehen für verschiedene künstlerische Stilmerkmale und Kunsttypen: Einhaltung von Form, Maß und Begrenzung in der plastischen Kunst auf der einen, Auflösung von Form, Entgrenzung in der unbildlichen Kunst der Musik auf der anderen Seite. Apoll wird der Zustand des Traums, der sich als solcher weiß, zugeordnet, Dionysos dagegen der Rausch, die Ekstase, in der das Bewusstsein darüber verschwindet. Beide Bereiche lassen sich auch in einem ontologischen Sinne deuten[14] – etwas vereinfacht gesagt: Das Apollinische als die empirische Realität endlicher Gestalten, zu der sich das dionysische schöpferische ‚Kräftespiel‘ herausbildet. Die Verbindung von beidem im „tragische[n] Kunstwerk“ stellt die „Spitze der unserem Auge erreichbaren Kunstpyramide“ (7, 335) dar. Warum ist dies wichtig? Die wirklich große Kunst bleibt nicht wie die vom ästhetischen Sokratismus geprägte Kunst beim „peinlichen Abkonterfeien der Wirklichkeit“ (1, 55) stehen. Mit Schopenhauer stimme ich darin überein, dass Musik als die größte Kunst nicht wie alle anderen Künste „Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei und so also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I, p. 310).“ (1, 104). Wahre Musik etwa spricht bei einer solchen Vereinigung „das innere Wesen, den Willen selbst“ (1, 111 f.) aus, sie ist „Spiegel des Weltwillens“ (1, 112). Im ontologischen Sinne könnte man sagen, dass eine solche Kunst nicht einen Daseinsbereich verabsolutiert, sondern das Dasein in seiner Gesamtheit erfasst, nicht nur seine vergänglichen Erscheinungen. Die höchste Kunst führt zur höchsten Form der Erlösung des Ur-Einen bzw. des Ur-Künstlers. Sie spendet den notwendigen Trost für denjenigen, der den „Blick[…] mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte“, „in das Wesen der Dinge“ getan und die Erkenntnis der „Grausamkeit der Natur“ (1, 56) gewonnen hat und sorgt somit dafür, dass dieser das  Leben nicht verneint. Große Kunst kann aber nur von Menschen mit einer ‚starken‘ Persönlichkeit hervorgebracht werden – vom Genius, der viel Leid ertragen bzw. sich viel von dem „dionysischen Untergrunde der Welt“ (1, 155) bewusst machen kann, da dies ein hohes Maß „apollinische[r] Verklärungskraft“ mit seinen „üppigste[n] Schönheitswirkungen“ (1, 155) erfordert. Dem besonders leidensfähigen Genius, der diese Kunst hervorbringt, ermöglicht diese Form von Kunst wiederum die Existenz, sein Weiterleben. Solche „Individuen trotzen dem Entsetzlichen die Schönheit ab“[15]: Beim Anblick der „althellenischen Existenz“ (1, 155) müsste man ausrufen: „‚Seliges Volk der Hellenen! Wie groß muß unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen!‘“ (1, 155f.) Man müsste aber hinzufügen: „‚ […] wie viel mußte dies Volk leiden, um so schön werden zu können![…]‘“ (1, 156)

Mit einer vom ästhetischen Sokratismus geprägten Kunst  kann sich das Leben den Genius jedenfalls nicht retten:[16] Sie hat zuwenig „apollinische[…] Verklärungskraft“ (1, 155), da das Leiden nicht akzeptiert und ertragen, sondern im Glauben an die Kraft des Verstandes für vermeidbar gehalten wird! Die reine Nachahmung der Wirklichkeit in der Kunst kann keinen Trost spenden.

2.4. Politische Forderungen der Positionen

B: Ich strebe nach einer politischen Ordnung, in der ich Werte, wie z.B. das Wohlergehen aller, die Freiheit des Einzelnen, Menschenwürde, Mitleid, Gerechtigkeit, Gleichheit usw. am besten umgesetzt sehe: eine demokratische Ordnung. Gegen eine bestehende Ordnung, in der einige wenige die große Masse beherrschen und auf ihre Kosten leben, muss rebelliert werden, denn eine Kultur, die auf einem Sklavenstand aufbaut, widerspricht meinem Bestreben. Ich gehe davon aus, dass diese Ziele in letzter Konsequenz durchgeführt werden müssen, dass ihnen alles andere untergeordnet werden muss, und kann nicht nachvollziehen, warum Kunst, die ich als ein vergleichsweise luxuriöses Unternehmen ansehe, als wichtiger erachtet werden sollte.

A: „Der ‚gute Urmensch‘ will seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten!“ (1, 123) Folge des „unumschränkt sich wähnenden Optimismus“ (1, 117) sind politische Forderungen, die sich etwa in den „socialistischen Bewegungen“ (1, 123) äußern, und die ich als für meine Werte und Ziele im höchsten Maße hinderlich und gefährlich einschätze. Damit ist das Erreichen der bestmöglichen Kultur im oben beschriebenen Sinne ausgeschlossen. Die politische Folgerung aus meiner Einstellung ist, dass eine Kultur einen Sklavenstand benötigt. Es ist grausame Wahrheit, „daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum“ (1, 767) gehört.

Damit es einen breiten tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, über das Maaß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnoth sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt werden, um nun eine neue Welt des Bedürfnisses zu erzeugen und zu befriedigen. (1, 767)

B: Das ist meines Erachtens ein Angriff auf die „Würde des Menschen“ und die „Würde der Arbeit“ (1, 764), deren Schutz das von mir favorisierte System gewährleisten soll.

A: „Würde des Menschen“, „Würde der Arbeit“ – das sind „schöne[…] Verführungs- und Beruhigungsworte“ (1, 117), „Begriffs-Hallucinationen“ (1, 765):

Jeder Mensch, mit seiner gesammten Tätigkeit, hat nur soviel Würde, als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius ist; woraus sofort die ethische Konsequenz zu erschließen ist, daß der ‚Mensch an sich‘, der absolute Mensch, weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt (1, 776).

Wenn man davon ausgeht, dass der sich im „Existenz-Kampfe“ (1, 764) befindliche Mensch auch noch Künstler sein könnte – welch „unnatürliche[…] Verschmelzung“ (1, 765) – sieht man sich natürlich genötigt, „die Gier des Existenz-Kampfes“ „vor dem Kunstbedürfnisse zu entschuldigen und zu weihen. Deshalb glaubt man an die ‚Würde des Menschen‘ und die ‚Würde der Arbeit.‘“ (1, 765) Diese Begriffe täuschen aber darüber hinweg, dass „die Arbeit eine [notwendige K.L.] Schmach“ ist, da „das Dasein keinen Werth an sich hat“. (1, 765) Das „Menschending [ist] ein schmähliches und klägliches Nichts und eines ‚Schattens Traum‘“ (1, 765). Die „durchsichtigen Lügen“ (1, 766) braucht der Sklave aber, um überhaupt leben zu können, da er diese Schmach nicht ertragen könnte.

Er darf ja nicht begreifen, auf welcher Stufe und in welcher Höhe erst ungefähr von ‚Würde‘ gesprochen werden kann, dort nämlich, wo das Individuum völlig über sich hinaus geht und nicht mehr im Dienste seines individuellen Weiterlebens zeugen und arbeiten muß. (1, 766)

B: Meiner Ansicht muss daran gearbeitet werden, das Leid aus der Welt zu schaffen!

A: Erstens ist die Abschaffung des Leidens gar nicht möglich, und zweitens muss „das Elend der mühsam lebenden Menschen […] noch gesteigert werden, um einer geringen Anzahl die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen.“ (1, 767) Die „ganze Welt der Qual [ist] nötig […], damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde“. (1, 39)

Diese beiden Bereiche – die „eximirten Kulturmenschen“ (1, 769) und die dafür arbeitende Masse – müssen absolut voneinander getrennt werden. Für die wahre Kultur ist ein starker, unterordnender Staat notwendig, denn „erst die eiserne Klammer des Staates zwängt die größeren Massen so aneinander, daß jetzt die chemische Scheidung der Gesellschaft, mit ihrem neuen pyramidalen Aufbau, vor sich gehen muß.“ (1, 769) Der Staat ist „das Mittel, mit dem jener vorhin geschilderte Gesellschaftsprozeß in Fluß zu bringen und in seiner ungehemmten Fortdauer zu verbürgen ist.“ (1, 769) Er ist ein „grausame[s] Werkzeug“, ein „Eroberer mit eiserner Hand“ (1, 770), „ohne den es der Natur nicht gelingen möchte, durch die Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine, im Spiegel des Genius, zu kommen (1, 770f.) – er ist grausam, aber notwendig. Die „instinktive Lust am Staate“ (1, 771) ist dabei Voraussetzung für die Unterwerfung unter ihn: Sie überwindet die Erkenntnis des „entsetzlichen Ursprung[s] des Staates“ (1, 770) – „verwüstete Länder, zerstörte Städte, verwilderte Menschen, verzehrende[r] Völkerhaß!“ (1, 771) –, angesichts dessen eigentlich die größtmögliche Distanz der Menschen zum Staat zu erwarten wäre.

B: Die totale Unterordnung des Einzelnen unter einen starken Staat beschneidet die Freiheit des Menschen und kann von mir nicht unterstützt werden. Vielmehr sollte der Staat der Verwirklichung meiner oben genannten Werte und Ziele dienen.

Es gilt, eine politische Ordnung zu finden bzw. zu erhalten, die kriegerischen Auseinandersetzungen entgegenwirkt, oder besser: unter der „Krieg eine Unmöglichkeit ist“ (1, 773). Förderlich dafür ist,

die politischen Sondertriebe möglichst zu beschneiden und abzuschwächen und durch Herstellung großer gleichwiegender Staatenkörper und gegenseitiger Sicherstellung derselben den günstigen Erfolg eines Angriffskrieges und damit den Krieg überhaupt zur höchsten Unwahrscheinlichkeit zu machen (1, 773)

Die Entscheidungsmacht über Krieg und Frieden soll nicht mehr bei „einzelne[n] Machthaber[n]“ liegen, „die monarchischen Instinkte der Völker“ (1, 773) aufgelöst werden. Da kriegerische Auseinandersetzungen und das daraus folgende Leid wohl kaum im Interesse des diese Konsequenzen erkennenden Volkes liegen, können sie etwa durch die „Verbreitung des allgemeinen Stimmrechts“ (1, 773f.) verhindert werden.

A: Dabei geht es Ihnen doch nur um eine politische Ordnung, in der Sie Ihre eigenen Interessen möglichst ungestört verfolgen können! Das wäre unter einem starken Staat nicht möglich. Sie wollen „einen großen Einfluß auf den Staat gewinnen, weil Sie ihn als Mittel betrachten dürfen, während alle Anderen unter der Macht jener unbewußten Absichten des Staates selbst nur Mittel des Staatszwecks sind.“ (1, 773) Und in einer wie von Ihnen beschriebenen Ordnung glauben Sie Ihre Ziele am besten verfolgen zu können – deshalb fürchten Sie sich vor dem Krieg. Die „Staatstendenz“ wird dabei aber zur „Geldtendenz“ abgelenkt (1, 774), die „Lehren der französischen Aufklärung und Revolution“ (1, 773), die „Revolutionsgedanken“ stehen eigentlich „im Dienste einer eigensüchtigen staatlosen Geldaristrokratie“ (1, 774).

Ich habe bezüglich des Kriegs eine völlig andere Ansicht: Er ist „für den Staat eine ebensolche Nothwendigkeit […], wie der Sklave für die Gesellschaft“. (1, 774) Es besteht ein „geheimnißvolle[r] Zusammenhang, den wir hier zwischen Staat und Kunst, politischer Gier und künstlerischer Zeugung, Schlachtfeld und Kunstwerk ahnen“. (1, 772) Der Krieg bricht von Zeit zu Zeit über die Völker herein als „Apollo, der rechte Weihe- und Reinigungsgott des Staates“, der diesen von seiner „Geldtendenz“ (1, 774) befreit. Er ist notwendig für die Erzeugung des Genius und der wahren Kultur: Zwischen den Kriegen ist der durch diesen wieder gereinigten Gesellschaft doch Zeit gelassen, unter der nach innen gewendeten zusammengedrängten Wirkung jenes bellum, allerorts zu keimen und zu grünen, um, sobald es einige wärmere Tage giebt, die leuchtenden Blüthen des Genius hervorsprießen zu lassen. (1, 772)

Die natürliche Ordnung hat den unbewussten Zweck der „Erzeugung des militärischen Genius – den wir als den ursprünglichen Staatengründer kennen gelernt haben.“ (1, 775)

3. Kritik

B: Ich würde vorschlagen, an dieser Stelle aus unseren Rollen herauszutreten und uns unserer Kritik der beiden Positionen zuzuwenden. Was davon halten wir aus welchen Gründen für vertretbar, was nicht?

A: Einverstanden. Allerdings werden wir aus Zeitgründen nicht alle interessanten Punkte ansprechen können. Die Fragen, die eine ästhetische oder moralische Weltbetrachtung aufwerfen bzw. die mit den verschiedenen Kunstauffassungen und -typen verbunden sind, werden wir nicht oder nur kurz behandeln.

3.1 Metaphysische Überhöhung des Genius

B: Ich möchte zunächst einmal bekunden, dass ich Nietzsches Wertschätzung des Genius, der schöpferischen ‚großen‘ und ‚starken‘ Menschen im persönlichkeitstheoretischen Sinn, für legitim halte und mir zu eigen machen möchte. In einer Kultur muss die Existenz solcher Menschen und ihr Schaffen gewährleistet sein. Das Ausschöpfen des kulturellen Potentials halte auch ich für ein erstrebenswertes Ziel.

A: Eine absolute Trennung zwischen ‚starken‘ und ‚schwachen‘ Persönlichkeiten zu fordern und davon auszugehen, dass sich ein ‚Kontakt‘ kulturschädigend auswirkt, ist dafür aber nicht für notwendig. Dass nicht alle Menschen einen hohen Grad an Persönlichkeitsentwicklung erreichen können, darf man nicht übersehen – es wird immer Menschen geben, die stark illusionsbedürftig sind, was aber nicht heißen muss, dass nicht versucht werden kann, sie zumindest ein stückweit ‚stärker‘ zu machen.

B: Mich stört, dass Nietzsches Wertschätzung des Genius und der Entwicklung einer hohen Kultur in eine Extremposition und Ontologisierung dieser Werte umkippt.[17] Hierbei handelt es sich um illusionäre Vorstellungen, die diese Position verstärken und absichern sollen, sich aber nicht produktiv auf die eigentlichen Ziele auswirken. Verabsolutierend ist die Feststellung, dass es um nichts anderes als den Genius gehe, dass alle Energien dafür aufgewandt werden müssten. Dies führt aber dazu, dass andere Werte und Ziele, die für die Entwicklung der Kultur ebenfalls wichtig sind und nicht vernachlässigt werden dürfen – etwa das Wohlergehen der Menschen in einem noch zu bestimmenden Sinne –, mit kulturschädigenden Auswirkungen diesem Ziel untergeordnet werden. Oben gefallene Aussagen wie ‚Der Genius ist Ziel und letzte Absicht der Natur‘ oder der ‚Der Genius ist das eigentliche Ziel des Staates‘ sind Wert-Ontologisierungen, illusionäre Wertverstärker, die die Funktion haben, Nietzsches verabsolutierende Wertschätzung des Genius und der Kultur metaphysisch abzusichern. Von einer ‚letzten Absicht der Natur‘ oder einem ‚eigentlichen Ziel des Staates‘ zu sprechen, ist eine metaphysische Redeweise, die so etwas wie ein ‚höheres‘ Ziel oder einen ‚höheren‘ Sinn des Daseins unterstellt – wogegen sich Nietzsche mit seiner tragischen Weltbetrachtung ja eigentlich richtet! Die Verstärkung der eigenen Position kann etwa so funktionieren: Jedem, der seine Energien nicht darauf ausrichtet, dem Genius die Existenz zu ermöglichen, kann der harte und wirkungsvolle Vorwurf gemacht werden, er handle ‚naturwidrig‘.

3.2. Illusionsbedürftigkeit[18]

A: Den Prämissen Nietzsches ‚Der Mensch braucht Illusionen‘ und ‚Wissenschaft zerstört Illusionen‘ sowie seinem Schluss ‚also geht von Wissenschaft eine Bedrohung für das Leben des Menschen aus‘ kann ich so nicht zustimmen. Richtig ist: der Mensch – auch der Genius – ist immer an bestimmte – variable – Weltauffassungen und Werthaltungen gebunden und hat Vorstellungen nötig, die seine Werte verstärken bzw. stabilisieren. Aus dieser Wertdimension kann er nicht heraustreten, was aber solange nicht problematisch ist, wie Werte nicht als Erkenntnisse ausgegeben werden. Es gibt solche „Werthaltungs-Verstärker“[19], die illusionär sind im Sinne von mythisch-religiösen, metaphysischen Vorstellungen, die z.B. Werte in ein ‚höheres‘ Sein verkehren, und solche, die nicht illusionär sind, die nicht mit einem kognitiven Anspruch auftreten und die um ihre Funktion der Wert-Verstärkung wissen.

B: Hier muss noch weiter differenziert werden: Sowohl bei den illusionären als auch den nicht-illusionären Wertverstärkern gibt es Varianten, die für das Ziel der Selbststeigerung des Menschen bzw. für seine Entwicklung zu einer ‚starke‘ Persönlichkeit im oben beschriebenen Sinne förderlich sind bzw. dieses eher verhindern. Illusionäre Wertverstärker können prinzipiell durch nicht-illusionäre Wertverstärker ersetzt werden – natürlich auch durch solche, die der Persönlichkeitssteigerung dienlich sind. Diese Möglichkeit hängt aber ab von der Stufe der Persönlichkeitsentwicklung, die ein Mensch erreicht hat: Je nachdem, wie ‚stark‘ oder ‚schwach‘ die Persönlichkeit eines Menschen ist, braucht er auf einer bestimmten Stufe tatsächlich illusionäre Wertverstärker, und eine radikale Desillusionierung wäre der weiteren Entwicklung möglicherweise hinderlich. Das heißt: Vor dem Hintergrund einer personalistischen Position, deren Ziel die Selbststeigerung des Menschen ist, haben illusionäre wertverstärkende Vorstellungen sowie nicht-illusionäre Wertverstärker, die auf lange Sicht der Persönlichkeitsentwicklung hinderlich sind, ihre temporäre Berechtigung, können und sollen aber auf lange Sicht abgebaut werden.[20] Vielleicht lässt sich das Eingangszitat von Wittgenstein auch in diesem Sinne interpretieren.

A: Um Nietzsches Satz von oben aufzugreifen: Die Verallgemeinerung ‚Alle Werthaltungsverstärker sind illusionär‘ lässt Nietzsche annehmen, dass der Mensch Illusionen braucht. Bei einer Differenzierung wird aber deutlich: Zeitweilig werden Illusionen gebraucht, prinzipiell und auf lange Sicht sind sie aber vermeidbar. Dies hat auch Konsequenzen für die Wissenschaftskritik. Nietzsches Sokratismuskritik ist berechtigt als Kritik an einem ‚extremen‘ Verstandesdenken – dazu gleich mehr –, das das Angewiesensein auf Werte und nicht-illusionäre Wertverstärker nicht anerkennt bzw. eine zu radikale Desillusionierungsstrategie verfolgt. 

B: Die ‚gemäßigte‘ Variante ist jedoch nicht zu verstehen als ein Vernunftgebrauch, der bestimmte Illusionen als Tabubereich ansieht und um sie einen großen Bogen macht. Ziel ist es, Illusionen ohne Einschränkungen abzubauen, allerdings unter Berücksichtigung ihrer möglichen temporären Notwendigkeit. Die für den Menschen unabdingbare Wertdimension bleibt davon unberührt und behält ihre Berechtigung – solange Werte nicht als Erkenntnisse auftreten. Die Verallgemeinerungen ‚alle Wertverstärker sind illusionär‘ und ‚Wissenschaftlichkeit bedeutet automatisch den Angriff auf die Wertdimension‘ sind  an Nietzsches Aussage problematisch. Die Notwendigkeit von Wertverstärkern und einer Wissenschaftlichkeit, die dies berücksichtigt, ist aber zu bejahen.

3.3. ‚Extremes‘ vs. ‚gemäßigtes‘ Verstandesdenken[21]

B: Was ist es eigentlich, einmal auf den Punkt gebracht, wogegen sich Nietzsches polemische Kritik richtet?

A: Ich würde von meinem Standpunkt aus die Position, die Nietzsche angreift, als ‚extrem‘ bezeichnen: Eine Lebenshaltung, die durch ein „verabsolutierte[s] Verstandesdenken“[22] geprägt ist. Eine solche Formulierung impliziert die Möglichkeit einer ‚gemäßigten‘ Variante dieser Lebenshaltung – die ich im Übrigen im Gegensatz zur ersten für vertretbar halte. In Nietzsches Kritik finde ich jedoch keine explizite Differenzierung dieser beiden Positionen, was zunächst zu einer Kritik reizt, die ihm die generelle, sozusagen ‚über das Ziel hinausschießende‘ Verwerfung der rationalen Lebenshaltung vorwirft. Es muss aber gesehen werden, dass Teile der ‚gemäßigten‘ Version des Verstandesdenkens mit der Position auch des frühen Nietzsche zusammenpassen, und dafür scheint es mir förderlicher, Nietzsches Sokratismuskritik als „Kritik des verabsolutierten Verstandesdenkens“[23] zu deuten.

B: Berechtigt an Nietzsches Kritik der ‚extremen‘ Variante des Verstandesdenkens halte ich die Verwerfung des „übertriebenen Optimismus“[24] und des „übertriebenen Utopismus“[25], die aber auch vom ‚gemäßigten‘ Verstandesdenken angegriffen werden. Erkenntnis ist tatsächlich keine „Universalmedizin“ (1, 100), mit deren Hilfe sich alle Probleme des Lebens lösen ließen – der ‚Zuständigkeitsbereich‘ beschränkt sich auf kognitive Probleme. Bestimmte „Welträthsel“ (1, 118), wie z.B. die Frage nach dem Sinn des Lebens, fallen aber aus diesem Bereich heraus und sind daher auch nicht durch den Verstand lösbar.

Der Glaube daran, dass alle Menschen auf der Erde glücklich sein könnten und das Dasein durch die Vernunft so korrigiert werden könnte, dass es also gar kein Leid mehr gäbe, ist eine nicht realisierbare Utopie, deren Umsetzung aber auch nicht erstrebenswert wäre. Dies zu erkennen, gehört zu einer realistischen Weltauffassung, die ich vertrete.

A: Zu einer solchen Weltauffassung gehört aber auch, zu erkennen, was veränderbar ist. Das ‚gemäßigte‘ Verstandesdenken rechnet damit, dass mit Hilfe der Vernunft das Leid der Menschen zumindest zu einem gewissen Maß zu verringern ist und erachtet dies auch als erstrebenswert – darauf richtet es seine Energien auch. Nietzsche lehnt eine Verminderung des Leids jedoch generell ab und fordert sogar noch seine Erhöhung im Dienste der Kultur.

B: Wir sollten hier zwischen verschiedenen Leidensformen differenzieren.[26] Wenn man die Formel von der Erhöhung des Leidens auf solches Leid bezieht, das notwendigerweise mit dem Wachstum einer starken Persönlichkeit verbunden ist, stimme ich Nietzsche in diesem Punkt zu. Person-Werden heißt gerade nicht, notwendig Unangenehmes möglichst zu vermeiden oder ihm auszuweichen und ein möglichst bequemes, entspanntes Dasein anzustreben. Illusionen zu überwinden, etwa, die Sterblichkeit des Menschen anzuerkennen oder sich von einem ‚höheren‘ Sinn zu verabschieden, kann eine solche leidvolle Erfahrung sein. Es geht hier aber um das eigene Leid, das persönlichkeitssteigernd wirkt, nicht um das Leid anderer Menschen, das für einen selbst diese Funktion haben könnte. Zwar dürfte es nicht immer ganz einfach zu entscheiden sein, ob es sich um in diesem Sinn notwendiges Leid handelt oder nicht, sicher lässt sich aber nicht alles Leid der Welt damit ‚rechtfertigen‘, dass es zur Entwicklung einer ‚wahren‘ Kultur beiträgt.

B: Das Wohlergehen der Menschen ist ein nicht zu vernachlässigender Aspekt für eine ihr Potential ausschöpfende Kultur. Die völlige Missachtung dieses Werts wirkt hemmend auf die Kulturentwicklung. Das darf auf der anderen Seite aber nicht dazu führen, dass für die Persönlichkeitsentwicklung notwendiges Leid vermieden wird bzw. dass es darum geht, ein möglichst bequemes Leben zu ermöglichen, dem es an Herausforderungen und Anforderungen an den Menschen mangelt.

A: Es geht um das Vermeiden von Extremen: Es dürfen auch nicht alle Energien für das Wohlergehen der Menschen aufgewandt und dabei die Ermöglichung der Existenz der herausragenden Menschen vernachlässigt werden, da sonst das Ziel einer ihre Potentiale ausschöpfenden Kultur nicht erreicht werden kann.

Allerdings müssen auch noch andere, mit dem Wohlergehen zusammenhängende Werte Beachtung finden, wie etwa Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Zu diesen Begriffen sei hier nur so viel gesagt: Zunächst ist immer eine genaue Bestimmung nötig, was mit dem jeweiligen Begriff gemeint ist – Gleichheit kann z.B. auch in einem aus personalistischer Sicht negativen Sinne verstanden werden, wenn damit nämlich die Forderung der Nivellierung von Persönlichkeitsunterschieden und Uniformität etwa in den Meinungen gemeint ist. Zudem ist zu sehen: Es handelt sich um Werte, nicht um ‚höheres‘ Sein. Nietzsche scheint diese Begriffe jedoch ausschließlich in einem für die Persönlichkeitsentwicklung schädlichen Sinne zu verstehen und greift sie vor diesem Hintergrund aus an.

B: Noch einige Sätze zum Thema ‚Kunst‘ vor dem Hintergrund eines ‚extremen‘ bzw. ‚gemäßigten‘ Verstandesdenkens: Die Kritik Nietzsches am „ästhetischen Sokratismus“ (1, 85)  erscheint mir insofern gerechtfertigt, als dass nicht einsichtig ist, warum eine „unbewußt-instinktive“[27]  Kunstproduktion nicht auch ihre Berechtigung haben sollte. Das Ausklammern einer Produktionsform, sei es der unbewussten oder der bewusst-reflektierten, hat die Tendenz, das Ausschöpfen der menschlichen Potentiale auf dem Gebiet der Kunst einzuschränken. Beide Produktionsformen zuzulassen, ist aber mit dem ‚gemäßigten‘ Verstandesdenken ohne Probleme vereinbar – dieses muss nur eine unbewusst-instinktive ‚Produktion‘ von Erkenntnissen ausschließen.

A: Für Nietzsche ist es eine „Unmöglichkeit, daß der um das nackte Fortleben kämpfende Mensch Künstler sein könne“ (1, 765). Dass ein am Existenz-Minimum lebender Mensch wohl kaum Zeit für die Produktion von Kunst übrig hat, möchte ich nicht bestreiten, es sollte daraus aber nicht prinzipiell geschlossen werden, dass die Produktion auch von ‚großer‘ Kunst nur Menschen vorbehalten ist, die, dem „Existenzkampfe“ (1, 767) völlig entrückt, ein sorgenfreies Dasein haben. Von einer „unnatürlichen Verschmelzung“ (1, 765) zu sprechen, scheint mir jedenfalls nicht angebracht – die strikte Trennung beider Bereiche wird als ‚natürliche‘ Ordnung ausgegeben, was eine illusionäre Vorstellung ist.

3.4. Zu den politischen Forderungen [28]

B: Mit der Wertschätzung der ‚großen‘ Menschen im persönlichkeitstheoretischen Sinne und dem Bestreben nach der Ausschöpfung des kulturellen Potentials sehe ich nicht notwendigerweise eine politische Ordnung verbunden, die man als „elitär-aristokratisch“[29] bezeichnen könnte. Insbesondere, wenn auch anderen Werten – z.B. dem Wohlergehen der Menschen, der Freiheit und Gleichheit etc. in einem wohl definierten, mit der personalistischen Position nicht in Konflikt geratenden Sinne – Platz eingeräumt wird, betrachte ich für die Verfolgung des Ziels einer höchstmöglichen Entwicklung der Kultur eine demokratische Gesellschaft als am besten geeignet. Erst bei einer Extremposition, der Verabsolutierung der Wertprämissen bzw. bei den oben beschriebenen metaphysischen Absicherungen, wie Nietzsche sie vornimmt, scheint sich eine politische Ordnung geradezu aufzudrängen, in der wenige herausragende Menschen die große Masse der für sie Arbeitenden beherrschen – da dem Ziel ja alles untergeordnet werden muss. Diese politische Ordnung sichert Nietzsche metaphysisch ab, indem sie als ‚natürliche‘ Ordnung erscheint: Nur durch sie könne der Genius, der letzte Absicht der Natur sei, erzeugt werden. Jede andere Ordnung wäre dann als ‚unnatürlich‘ oder ‚naturwidrig‘ zu verwerfen – eine Möglichkeit, die eigene Einstellung mit Hilfe illusionärer Vorstellungen als einleuchtend erscheinen zu lassen.

A: Meines Erachtens ist mit dem ‚gemäßigten‘ Verstandesdenken nicht zwingend eine bestimmte politische Ordnung verbunden, aber es lässt sich mit Blick auf die Geschichte feststellen, dass es sowohl von allgemeinen Bestrebungen, eine ‚elitär-aristokratische‘ Ordnung aufzulösen als auch von demokratische Tendenzen im Besonderen begleitet ist. Geht Nietzsche nun von der Notwendigkeit eines Sklavenstandes aus, ist vor diesem Hintergrund verständlich, dass er naheliegende, da ‚passende‘ politische Konsequenzen des ‚gemäßigten‘ Verstandesdenkens befürchtet. Eine ‚elitär-aristokratische‘ Ordnung hingegen folgt nicht nur nicht notwendigerweise aus den oben beschriebenen Wertprämissen, sie ist ihnen sogar hinderlich: Eine ‚hohe‘ Kultur ist nicht zu verwechseln mit „eine[r] abgehobene[n] Luxus-Kultur“[30]. Letztere stört die Entfaltung menschlichen Potentials – ein völlig sorgenbefreites Dasein im Luxus verhindert gerade zur Selbststeigerung förderliches ‚Leid‘ und wirkt sich produktivitätslähmend aus. Selbstverständlich muss die Existenz und das Schaffen der großen Einzelnen gewährleistet werden, dafür ist es aber nicht nötig, die Massen sklavisch zu unterdrücken.

B: Eine metaphysische Rechtfertigung erhalten neben der beschriebenen Ordnung auch die Vermehrung des menschlichen Leidens, das nicht zur Selbststeigerung beiträgt, ein starker Staat mit „eiserner Hand“ (1, 770), dem die Masse untergeordnet ist, sowie der Krieg. Diese drei, von der Position des ‚gemäßigten‘ Verstandesdenkens aus gesehen zu vermeidenden Aspekte erscheinen bei Nietzsche als Notwendigkeiten, ohne die die Erzeugung des Genius’ als höchster Kulturtendenz undenkbar sind. Diese illusionären Vorstellungen Nietzsches dienen dazu, seine Einstellung abzusichern und zu verstärken. Eine Gefahr solcher Argumentationsstrukturen liegt aber darin, dass sie immer auch von anderen Positionen übernommen werden können und sich geradezu anbieten, etwa kriegerische Auseinandersetzungen zu ‚legitimieren‘.

A: Nietzsches Kritik am übertriebenen Streben nach Reichtum, an der „Geldtendenz“ (1, 774), ist zu unterstützen, soweit es sich dabei um ein für Wirtschafts- und Kulturentwicklung schädliches Bestreben handelt. Es ist aber zu bedenken, dass ein gewisses Gewinnstreben auch positive Auswirkungen auf eine Wirtschaft und Kultur haben kann. Die Unterstellung, jeder, der eine stabile politische Ordnung anstrebt, verfolge Bereicherungsinteressen in einem negativen Sinne, kann ich nicht teilen. Äußerst fraglich ist auch, ob Krieg ein geeignetes Mittel zu einer Reinigung von dieser Tendenz ist bzw. ob eine völlige Reinigung überhaupt möglich und erstrebenswert ist. Warum sollte es nicht auch ohne regelmäßige Kriege möglich sein, die ‚Geldtendenz‘ zumindest bis zu einem gewissen Grad zurückzudrängen? Im Übrigen muss insbesondere bei einer globalen und nicht auf einen einzelnen Staat eingeschränkten Betrachtungsweise auch gesehen werden, dass an militärischen Auseinandersetzungen in nicht unerheblichem Ausmaß finanziell profitiert werden kann,  Kriege der ‚Geldtendenz‘ also nicht unbedingt entgegenarbeiten müssen.

B: Eine Einstellung, die kriegerische Auseinandersetzungen möglichst zu vermeiden und Konflikte politisch zu lösen versucht und der ich mich anschließen möchte, ist dabei nicht gleichbedeutend mit einer pazifistischen Einstellung, die Krieg und Gewalt kategorisch, etwa auch im Verteidigungsfall, ablehnt.

3.5. Andere illusionäre Vorstellungen[31]

Problematisch finde ich auch Nietzsches ‚Modell‘ vom Aufblühen und Verfall der Kultur, das ihn in seinen Hoffnungen auf eine Kulturerneuerung metaphysisch bestärkt: In einer bestimmten Entwicklungsphase des Griechentums hat es einmal eine Hochkultur gegeben, die dann durch den Sokratismus dem Verfall ausgesetzt war, und in der Gegenwart stehen alle Zeichen auf das Wiederaufblühen der Kultur auf einer höheren Stufe – so ließe sich die Entwicklung nach Nietzsche vereinfacht beschreiben. Dabei scheint er mit etwas wie einer zwingenden Notwendigkeit zu rechnen, mit der diese neue Kultur entstehen wird – nach dem Motto: Die Entfremdungsphase kann ja nicht ewig dauern: „Es ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen Frohndienste der Omphale erschlafft.“ (1, 127) Nietzsche glaubt an die Existenz eines „deutschen Geistes“ (1, 128), der nach einer langen Phase der Entfremdung zu sich selbst zurückkehrt – womit die ‚natürliche‘ Ordnung wieder hergestellt wäre. Dies ist allerdings eine illusionäre wertverstärkende Vorstellung mit einer bestimmten Funktion: Nietzsche scheint sich eine von Deutschland ausgehende Kulturerneuerung zu wünschen. Durch die metaphysische Vorstellung vom deutschen Geist wird  aus der Wunschvorstellung ein Zustand, der mit Notwendigkeit eintreten muss – weil ja sonst der ‚deutsche Geist‘ nicht zu sich selbst zurückfindet und in seinem Entfremdungszustand verbleibt, was nur negative Folgen haben kann. Die angestrebte Erneuerung erscheint zudem als erreichbar, da es eine ‚hohe‘ Kultur schon einmal gegeben habe und da es ein ‚Gesetz‘ zu geben scheint, nach dem die Entfremdungsphase zeitlich begrenzt ist.

4. Fazit

Die wesentlichen Punkte, an denen sich Nietzsches Position und die ‚sokratische‘ als extreme Standpunkte voneinander abstoßen, seien zum Schluss noch einmal erwähnt. Da ist auf der einen Seite die tragische Weltbetrachtung mit ihrer ‚grausamen‘ dionysischen Weisheit und Kritik aller Weltverbesserungsversuche, die die theoretische Weltbetrachtung, auf der anderen Seite, in ihrem Glauben an den Verstand, der sich für alle Bereiche menschlichen Lebens zuständig hält, und übertriebenen Optimismus bzw. Utopismus unternimmt. Sie, die die Illusionsbedürftigkeit (in einem undifferenzierten Sinn) des Menschen verneint, wird von Nietzsche vor dem Hintergrund seiner Überzeugung von der menschlichen Illusionsbedürftigkeit (ebenfalls in einem undifferenzierten Sinn) angegriffen. Nietzsche, dem die Erzeugung des schöpferischen Genius und der höchstmöglichen Kultur über alles geht, steht die Unterordnung der ‚höchsten Kulturtendenz‘ unter das Wohlergehen der Masse gegenüber. Dem entsprechen Kunstauffassungen und bevorzugte Kunsttypen, die miteinander kollidieren: Der ‚ästhetische Sokratismus‘ fordert die bewusst-reflektierte Produktion einer Kunst, deren Schönheit an ihrer Verständigkeit gemessen wird, Nietzsche dagegen will das tragische Kunstwerk, das das Dasein durch die Vereinigung des Dionysischen und Apollinischen in seiner Gesamtheit erfasst und dem Genius, der als einziger zur Erzeugung dieser ‚großen‘ Kunst fähig ist, im Leben hält. Eine ‚elitär-aristokratische‘ Ordnung mit einem starken Staat, der regelmäßig durch Kriege von seiner ‚Geldtendenz‘ gereinigt wird und dem die Massen zum Zweck der Erzeugung des Genius sklavisch untergeordnet sind – das sind die politischen Forderungen Nietzsches, der misstrauisch demokratischen (aber auch anderen, z.B. sozialistischen) Tendenzen gegenübersteht, die die von ihm erstrebte Ordnung aufzulösen versuchen und etwa das Wohlergehen der Masse, Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit als Priorität betrachten, welche in einer Ordnung verwirklicht werden soll, die durch Dezentralisierung der Entscheidungsmacht unter anderem bestrebt ist, Kriege möglichst zu verhindern.

Bemüht man sich jedoch vor dem Hintergrund einer nicht verabsolutierenden und auf metaphysische Überhöhung bzw. illusionäre Vorstellungen zurückgreifende Wertschätzung ‚starker‘ Persönlichkeiten unter der Berücksichtigung anderer wichtiger Werte um eine differenzierte Betrachtung bestimmter Zusammenhänge und Begrifflichkeiten – versteht man unter ‚Illusionsbedürftigkeit‘ etwa die grundsätzliche Notwendigkeit und Legitimität der menschlichen Wertdimension, solange diese nicht als Erkenntnis auftritt, und die nur temporär gerechtfertigte Funktion illusionärer (‚geglaubter‘ mythisch-religiöser, metaphysischer) Vorstellungen, unterscheidet man zudem zwischen für die Persönlichkeitssteigerung notwendigem und entbehrlichem Leiden, so erweist sich eine Verknüpfung der nicht-problematischen Aspekte beider Positionen als aussichtsreich: Z.B. indem zur Verwirklichung des Ziels einer ‚hohen‘ Kultur mit ausreichend Möglichkeiten für ‚starke‘ Persönlichkeiten, darin zu existieren und zu schaffen, nicht eine ‚elitär-aristokratische‘ Ordnung angestrebt wird, sondern eine demokratische, in der es auch um das Wohlergehen der Menschen geht, allerdings wiederum nicht in einem verabsolutierenden Sinne.


5 Literaturverzeichnis

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Sekundär:

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Auswahl an weiterer, nicht direkt oder indirekt zitierter Literatur:

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Fußnoten

[1] Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main 1984 (stw 501) Werkausgabe Band 1. S. 85 (6.54).

[2] Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980. Die aus dieser Ausgabe entnommenen Stellen werden im laufenden Text der Einfachheit halber mit Bandnummer und Seitenzahl zitiert. Hervorhebungen im Original werden wiedergegeben, worauf bei den Zitaten aber nicht extra hingewiesen wird.

[3] Ebd. Bd. 1, S. 9-156.

[4] Ebd. Bd. 1, S. 764-777.

[5] Ebd. Bd. 7, S. 333-349.

[6] Peter Tepe: Mein Nietzsche. Wien 1993. S. 98. 

[7] Auf die Möglichkeit, die Textpartien zum Ur-Einen im Sinne einer „geglaubten“ bzw. „fiktionale[n] Metaphysik“ (P. Tepe: Mein Nietzsche. S. 96) und somit eben auch als naturalistische Weltauffassung eines quasi-ästhetischen Spiels entgegengesetzter Kräfte am produktiven „Grunde[...] der Welt“ (1, 39) zu interpretieren, kann aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden, vgl. hierzu P. Tepe.: Mein Nietzsche. S. 97f. Die „Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen“ (1, 25) kann man auch in diesem ‘kraftontologischen’ Sinn verstehen: „Dionysos ist, ontologisch gesehen, die Chiffre für den ewigen Kampf der Kräfte, Apollo hingegen steht für die empirische Realität, für die Welt der endlichen Gestalten“. (Ebd. S. 101.)

[8] Vgl. F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Bd.1, S. 99.

[9] Christoph Jamme: Einführung in die Philosophie des Mythos. Band 2: Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 1991. S. 85.

[10] F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Bd.5, S.61.

[11] Vgl. ebd. Bd.1, S. 767f.

[12] Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens. Frankfurt am Main 2002. S. 67.

[13] An anderer Stelle spricht Nietzsche von Euripides’ „aesthetische[m] Grundsatz ‘alles muss bewusst sein, um schön zu sein’“ als „Parallelsatz zu dem sokratischen ‘alles muss bewusst sein, um gut zu sein’“. (F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Bd.1, S. 87)

[14] Vgl. Anm. 6.

[15] R. Safranski: Nietzsche. S. 76.

[16] Vgl. F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Bd.1, S. 56.

[17] Vgl. P. Tepe: Mein Nietzsche. S. 111f.

[18] Vgl. ebd. S. 89-93.

[19] Ebd. S. 90.

[20] Vgl. ebd. S. 85f.

[21] Vgl. ebd. S. 105-107.

[22] Ebd. S. 105.

[23] Ebd.

[24] Ebd.

[25] Ebd. S. 106.

[26] Vgl. ebd. S. 58.

[27] Ebd. S. 106.

[28] Vgl. ebd. S. 111-116.

[29] Ebd. S. 112.

[30] Ebd. S. 118.

[31] Vgl. ebd. S. 109f.


[Inhaltsverzeichnis Band 1]