[Inhaltsverzeichnis Band 1]

Peter Tepe

Derrida. Anmerkungen zum Film von Kirby Dick und Amy Ziering Kofman

1. Vorbemerkung

Am 11.12.2003 fand in der Black Box (Düsseldorf) eine Podiumsdiskussion zum Film Derrida statt, an der ich zusammen mit dem Medienwissenschaftler Prof. Dr. Michael Wetzel (Universität Bonn) teilnahm. Diskussionsleiter war der Filmjournalist Karim Zendagui.

Ich zögerte zunächst, ob ich zusagen sollte – hauptsächlich aus zwei Gründen:

(1) Ich bin kein Filmwissenschaftler. Zwar bot ich im Fach Germanistik – insbesondere in den 80er-Jahren und zusammen mit Dr. Heinz Holzapfel – über mehrere Jahre einen Arbeitskreis Filmanalyse an und veranstaltete auch mehrere Seminare zum Thema, aber seit einer Reihe von Jahren fehlt mir schlicht die Zeit, mich weiter intensiv mit dem Thema Film zu beschäftigen.

(2) Als Philosoph stehe ich dem Denken Derridas reserviert gegenüber und gehöre eher zum Lager der Kritiker.

Meine Diskussionsbeiträge erfolgten daher aus einer gewissen Distanz, waren aber von dem für die kognitive Hermeneutik charakteristischen Bemühen getragen, der Konzeption des Films gerecht zu werden. Im folgenden werden – in geringfügig überarbeiteter Form – die Skizzen veröffentlicht, die ich zur Vorbereitung auf den Abend geschrieben habe.

2. Annäherung an den Film

Wer die Hervorbringungen des Individuums X mag, sie schätzt, sie bewundert, mit welchem Intensitätsgrad auch immer (z.B. die von X gemalten Bilder, die von X komponierte Musik, die von X verfassten Romane, die von X konstruierte wissenschaftliche Theorie oder eben auch die von X entwickelte Philosophie), hat zwar nicht immer, aber doch ziemlich häufig auch ein Interesse daran, etwas über das Individuum X zu erfahren – ein biografisches Interesse. Wer gegenüber den Hervorbringungen von X positiv eingestellt ist, möchte oft auch wissen, was für ein Mensch X ist: wie X aussieht, wie X redet, wie X sich verhält, wie X wohnt, welche Freunde er oder sie hat usw.

Der Dokumentarfilm über Derrida bedient dieses Interesse, aber er tut es auf eine besondere Weise. Diese besondere Weise hängt mit der Philosophie Derridas zusammen:

(1) Die Filmemacher (Dick/Kofman), insbesondere Kofman, stehen offenkundig der Dekonstruktion nahe. Daraus ergibt sich das Konzept des Films: Ziel ist es, so vermute ich, einen dekonstruktivistischen, d.h. mit den Prinzipien der Dekonstruktion im Einklang stehenden Dokumentarfilm über Derrida zu machen. Dazu gehört z.B. das Aufbrechen etablierter Unterscheidungen.

Stellen wir uns als Kontrast Filmemacher vor, die dieser Philosophie indifferent oder ablehnend gegenüberstehen; stellen wir uns ferner vor, Derrida hätte bei ihrem Projekt mitgewirkt. Mit Sicherheit wäre daraus ein Film erheblich anderer Machart hervorgegangen.

(2) Aus dem vermuteten Konzept lassen sich die Besonderheiten des Films erklären (was hier nur abrissartig geschehen kann). Die Informationen über das Individuum Derrida werden in mehrerlei Hinsicht gebrochen vermittelt, da die Theorie dies verlangt:

– Das Produktionsteam erscheint des öfteren im Bild: Dadurch wird betont, dass es sich nicht um eine ‚realistische Abbildung‘ handelt, sondern immer auch um eine Inszenierung. Das Filmhafte der filmischen Abbildung wird hervorgehoben, der Zweifel an der Authentizität des Gezeigten wird mitvermittelt, die Künstlichkeit der Szene betont.

– Derrida wird beim Betrachten von Videobändern gezeigt, auf denen er zu sehen ist: Kommentar wie oben.

– Derrida  erklärt, er habe, von seiner Gewohnheit abweichend, ‚ordentliche‘ Garderobe angelegt: Kommentar wie oben. Zusätzlich bleibt offen, ob Derridas Auskunft zutrifft oder gezielt irreführend ist.

– Alles wird (in einer theoriekonformen Weise) ‚verfremdet‘. Das gilt auch für das Lesen der Derrida-Passagen, für die Musik usw. Es gibt keine sukzessive Darstellung, die Bilder wackeln usw.

Entsprechendes gilt für die Inhalte: Da die Dekonstruktion postuliert, es sei nicht möglich oder zumindest unangemessen bzw. verfälschend, die Prinzipien/Prämissen der eigenen Philosophie zusammenfassend und in möglichst einfacher Form darzulegen, verzichtet der dekonstruktivistische Dokumentarfilm darauf bzw. stellt ein solches Ansinnen als verfehlt dar. Das abschreckende Beispiel der Fernsehmoderatorin.

– Es wird nicht angestrebt, so etwas wie ein kohärentes ‚Gesamtbild‘ Derridas zu zeichnen, da dies nach der Theorie ebenfalls als verfehlt gilt. Statt dessen werden vielfältige Detailbeobachtungen nebeneinander gestellt, Risse und Widersprüche gezielt hervorgehoben. Die Dekonstruktion wertet bekanntlich das Marginale, die ‚Randgänge‘ auf; dasselbe geschieht in biografischer Hinsicht auch im Film. Im scheinbar Nebensächlichen gilt es Entdeckungen zu machen.

Dazu passt auch, dass die philosophischen Beiträge Derridas im Film nie das Grundsätzliche der Dekonstruktion thematisieren, sondern sie auf bestimmte Problembereiche ‚anwenden‘. Dazu passt ferner auch der Fragestil, z.B. die ziemlich absurde Frage, welchen Philosophen Derrida gern zur Mutter hätte. (Diese Frage sollte von der anderen Frage unterschieden werden, ob Derrida sich eine Frau als ‚große Philosophin‘ vorstellen könne.)

– Aus dem Filmkonzept erklärt sich auch die Art der positiven Darstellung Derridas: Er wird nicht als ‚großes Genie‘ inszeniert, das sich total von ‚normalen Menschen‘ unterscheidet. Er wird als ein sympathischer Mensch gezeigt, der viele ‚normale‘ Züge aufweist (er schmiert sein Brötchen usw.), aber zugleich ein bedeutender Denker ist. Eine ungebrochene Verklärung Derridas wäre mit der Haltung der Dekonstruktion nicht vereinbar. Eine gebrochene Verklärung findet jedoch durchaus statt: ein weihevoller Ton, freilich in gebrochener, ‚postmoderner‘ Form.

– Derrida erscheint als ein Mensch mit gewissen Brüchen: Einerseits weigert er sich (sympathischerweise), intimere Details seines Lebens preiszugeben, andererseits bekundet er ein starkes Interesse daran, etwas über das Sexualleben von Philosophen wie Kant, Hegel, Heidegger zu erfahren. Diese Brüche erscheinen als positive Elemente des Bildes.

Derrida wird als sympathischer, etwas medienscheuer Mensch dargestellt, der seine Privatsphäre schützen will und dazu sein Aussageverweigerungsrecht in Anspruch nimmt. Er zeigt sich als geistreicher Intellektueller mit Charme und Ausstrahlung, der bestrebt ist, bestimmte Formen des Personenkults zu vermeiden.

3. Bewertung des Films

Es handelt sich um eine ziemlich konsequente Umsetzung der Dekonstruktion im Medium des Dokumentarfilms. Grundsätzlich gilt:

(1) Wer der Philosophie Derridas positiv gegenübersteht, wird den Film in der Regel positiv bewerten, da er auch als Film dieser Philosophie entspricht.

(2) Wer die Philosophie Derridas gar nicht oder nur vom Hörensagen kennt, wird durch den Film kaum einen Zugang zur Philosophie Derridas finden können. Eine positive Bewertung ist aber möglich, da man Derrida als Mensch sympathisch finden und die Machart des Films auch unabhängig von der Dekonstruktion gut finden kann.

(3) Wer der Philosophie Derridas kritisch bis ablehnend gegenübersteht, wird den Film in der Regel negativ bewerten, da er auch als Film dieser (abgelehnten) Philosophie entspricht.

Da ich, wie anfangs schon erwähnt, der Philosophie Derrida eher kritisch gegenüberstehe, bin ich genötigt, aus meiner Sicht auch einige Einwände gegen den (philosophiekonformen) Dokumentarfilm zu formulieren:

– Dem Film gelingt es nicht, Zuschauern, die noch nicht mit dieser Philosophie bekannt sind, deren Ansatz in den Grundzügen zu vermitteln. Es handelt sich um einen ‚esoterischen‘ Film für Derrida-Fans und solche, die es werden wollen.

– Die Auskünfte Derridas im Film besitzen kaum einen kognitiven Wert. Was behauptet er eigentlich, und mit welchen Argumenten stützt er seine Thesen? Um dies zu beurteilen, müsste jede Äußerung Derridas im Film und jedes dort gebrachte Zitat erst mühselig analysiert und rekonstruiert werden. Derrida pflegt einen ganz andersartigen Denkstil, der nicht primär darauf ausgerichtet ist, bestimmte kognitive Probleme zu lösen, und dies auf eine möglichst überprüfbare Weise. Vieles von dem, was Derrida sagt, ist, bei aller begrifflichen Anstrengung, ‚schön gesagt‘, aber es ist sehr fraglich, ob es auch einen Erkenntniswert hat.

– Die Fragensteller sind zwar daran interessiert, Derrida zu einer Art Schau-Denken zu animieren, nicht aber daran, in eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Philosophie einzutreten. Deren Großartigkeit und Bedeutung wird vielmehr unbefragt vorausgesetzt. Die in gezeigten Diskussionen vorgebrachten Einwände betreffen nicht die Grundlagen der Dekonstruktion, deren ‚Weltsicht‘.

 

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