[Inhaltsverzeichnis Band 1]

Peter Tepe

Über Rezensionen: Qualitätsstandards, Defizite, ‘ideologische’ Funktionen
Auch eine Antwort an Inge Stephan

Darüber, was Rezensionen von Sachbüchern, insbesondere von wissenschaftlichen Texten zu leisten haben, besteht auf einer intuitiven Ebene eine ziemlich weitgehende Übereinstimmung. Die von vielen akzeptierten Postulate lassen sich folgendermaßen bestimmen:

  1. Die Rezension sollte über den Text korrekt informieren, d.h. dass sie erstens das Konzept, die übergreifende Zielsetzung des Textes zutreffend erfassen und zweitens die Argumentationsweise sowie die Hauptthesen und -ergebnisse korrekt darstellen sollte.
    Da für eine Rezension in der Regel nur wenig Platz zur Verfügung steht, muss die Bewältigung dieser Aufgaben in der gebotenen Kürze erfolgen. Die Rezension sollte über die ‘essentials’ gerafft informieren; bei Platzmangel ist es gerechtfertigt, Binnendifferenzierungen zu vernachlässigen.
  2. Eine Rezension kann sich mit einem Informationsteil begnügen, enthält sie aber darüber hinaus auch einen Kritikteil, so sollte dieser zum einen sachlich plausibel, zum anderen textkonform sein. Das besagt erstens: Die gegen den Text bzw. gegen bestimmte Partien/Thesen vorgebrachten Einwände sollten nachvollziehbar sein und ein gewisses Maß an Überzeugungskraft besitzen. Zweitens sollten sich die kritischen Einwände auf das beziehen, was im Text tatsächlich behauptet wird - und nicht auf Thesen, die der Rezensent dem Text willkürlich zugeschrieben hat. Die Rezension hat im Kritikteil die hauptsächlichen Mängel gerafft aufzudecken; bei Platzmangel ist es gerechtfertigt, untergeordnete Schwachpunkte zu vernachlässigen.
    Ich halte eine Studie für lohnend, die sich auf ausgewählte Sachbücher - eventuell aus verschiedenen Epochen - konzentiert, welche häufig und kontrovers rezensiert worden sind, um dann die Informations- und Kritikteile dieser Rezensionen detailliert zu untersuchen und mit dem rezensierten Text zu vergleichen. Dabei würde sich herausstellen, dass eine erhebliche Anzahl der Rezensionen deutlich gegen die anfangs aufgelisteten Qualitätsstandards verstößt. Die Feststellung dieser Defizite müsste auch zu Überlegungen über die Gründe dieser ‘Fehlleistungen’ führen. Und es wäre zu erwägen, wie Fachzeitschriften und andere Rezensionsorgane dazu beitragen können, die Qualität von Rezensionen zu sichern und zu verbessern.
    In der folgenden Analyse werde ich mich jedoch nicht auf den dornigen Weg begeben, eine solche breit angelegte Untersuchung anzugehen, sondern einen Fall thematisieren, der mich selbst betrifft. In der Zeitschrift für Germanistik XII - 3/2002, S. 664-667 hat Inge Stephan, Professorin für neuere deutsche Philologie an der Humboldt-Universität, in einer Sammelrezension auch mein Buch Mythos & Literatur besprochen und ist dabei zu einem radikal negativen Urteil, zu einem ‘Totalverriss’ gelangt.
    Wenn ein von einem Verriss Betroffener die Einhaltung der Qualitätsstandards in der jeweiligen Rezension prüfen will, so sind dabei einige Vorsichtsmaßnahmen zu beachten. Erstens sollte man versuchen, die eigene emotionale Betroffenheit durch das negative Urteil so weit wie möglich einzuklammern, um die Sachfragen angemessen behandeln zu können. Zweitens sollte vorweg eingeräumt werden, dass Sachbücher, die schwere Mängel aufweisen, scharf zu kritisieren sind - bis hin zum Totalverriss. Und man sollte konzedieren, dass auch die eigenen Texte derartige Mängel aufweisen können.
    Ich werde mich bemühen, diese Vorsichtsmaßnahmen zu befolgen. Meine These lautet: Die Rezension von Inge Stephan verstößt in erheblichem Maß gegen die Qualitätsstandards, d.h. es handelt sich um eine höchst defizitäre Rezension. Ich stelle die Buchbesprechung zunächst - geringfügig gekürzt - vor, um dann die Darstellungs- und Bewertungsschritte Punkt für Punkt zu untersuchen. Abschließend kehre ich dann auf die allgemeine Ebene zurück und stelle Überlegungen zur ‘ideologischen’ Funktion defizitärer Rezensionen an.

Die Rezension

  1. Nachdem sie einleitend die "sprunghafte Zunahme" von Mythos-Veröffentlichungen konstatiert hat, wendet sich Stephan meinem Buch zu. "Das Buch [...] verspricht viel - und um das Ergebnis vorwegzunehmen - hält wenig. Bereits der Untertitel Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung signalisiert den hohen Anspruch, der in der Einleitung folgendermaßen formuliert wird: ‘In literaturwissenschaftlichen Arbeiten werden Ausdrücke wie ‘Mythos’ und ‘mythisch’ in ganz unterschiedlicher Bedeutung gebraucht, und es wird über ganz unterschiedliche Phänomene und Probleme gesprochen, ohne daß sich die Forscher darüber hinlänglich klar sind. Das ist für eine Wissenschaft kein guter Zustand, und deshalb habe ich beschlossen, etwas zur Verbesserung dieser Lage beizutragen." (S. 7)
  2. Es folgt eine erste generelle Kritik: "Wenn man an das hohe Niveau denkt, das die Mythosforschung bereits mit Blumenbergs Arbeit am Mythos (1979) erreicht hatte, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier das Rad noch einmal erfunden werden soll." Diese Kritik besagt offenbar, dass der unternommene Versuch des Aufbaus einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung unnötig ist, da es diese Disziplin bereits in einer wissenschaftlich befriedigenden Form gibt.
  3. Angeschlossen wird eine zweite generelle Kritik, die darüber hinaus das Scheitern des vorgelegten Versuchs behauptet. "Das hehre Ziel, ‘die literaturwissenschaftliche Mythosforschung als eine fest umrissene Disziplin mit klar abgegrenztem Gegenstandsbereich und eindeutiger methodischer Ausrichtung zu begründen’ (S. 7), wird durch das vorgelegte Buch [...] in keiner Weise eingelöst." Dieses negative Votum wird im folgenden begründet.
  4. "Statt der begrifflichen Klärung werden im Kapitel ‘Mythos überall’ 73 ‘Mythos-Bedeutungen’ unterschiedlichster Provenienz zusammengestellt, wobei es sich ‘eher um Zufallsfunde’ denn um ‘systematische Recherche’ (S. 15) handelt, wie der Verf. selbst konzediert."
  5. "Die daran anschließenden Ausführungen zum ‘Mythos-Verbund’ als einem Projekt, in dem neben der literaturwissenschaftlichen Mythosforschung auch ‘die kunst- und filmwissenschaftliche Mythosforschung, aber auch die Bildforschung, die Symbolforschung und noch einige mehr’ (S. 15) integriert werden sollen, bieten neben einigen ‘Sprach-Empfehlungen’, ‘um dem Kuddelmuddel ein Ende zu bereiten’ (S. 76), eine Unterscheidung in ‘drei Typen mythoshaltiger Literatur’ (S. 80) an und benennen verschiedene Arbeitsfelder und Analyseebenen (1-6), die den Anschein von Ordnung erwecken, in Wirklichkeit aber genau in den ‘Kuddelmuddel’ hineinführen, den der Verf. gerade überwinden will."
  6. "Die beiden ‘Modell-Interpretationen von Christa Wolfs Medea. Stimmen und Rytschëus Wenn die Wale fortziehen, die als Beispieltexte für Typ a und b mythischen Erzählens ins Feld geführt werden, halten aufgrund der schematischen Abfolge von ‘Basis-Analyse’, ‘Basis-Interpretation’ und ‘Spezielle Probleme’ [...] keinerlei interpretatorische Überraschungen bereit, sondern versammeln Allgemeinplätze."
  7. "Das gilt auch für die Interpretationsanleitungen ‘Für Fortgeschrittene’, mit denen das Buch schließt und die sich auf den Typ c (Mythos-Theorien) beziehen und u.a. eine Auseinandersetzung mit Heuermanns Buch Medien und Mythen (1994) enthalten."
  8. Das Gesamturteil lautet: "Als Vorlesung mag das alles hingehen, als Buch ist das aber in höchstem Grade ärgerlich."
  9. Abschließend kritisiert Stephan noch die Form bzw. ‘Machart’ des Buches. "Hinzu kommt der bemüht ‘lockere’ Ton (S. 11), mit dem der Verf. quasi eine ‘Ein-Mann-Show’ abzieht und sich selbst zum Mythos stilisiert (‘Peter Tepe, dessen Vorlesungen selbst schon zum Mythos geworden sind’, S. 11). Die ‘Maniac-Monday-Shows’ (sic!), mit denen die Vorlesung garniert waren und die dem Leser zum Glück erspart bleiben, und die launigen Reden aus dem MYR, dem sog. mythenfreien Raum, die zwischen die Kapitel geschaltet sind, erwecken weniger den Eindruck einer ‘fröhlichen Wissenschaft’ denn eines überanstrengten Entertainments, mit dem im universitären Alltag die Studierenden bei Laune gehalten werden sollen."
Ich fasse zusammen: Das Projekt Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung ist erstens unnötig, da es diese Forschungsrichtung bereits in befriedigender Form gibt, und es ist zweitens in allen wesentlichen Punkten gescheitert: Die begriffliche Klärung bleibt aus; die Differenzierungen erwecken nur den Schein von Ordnung und produzieren selbst ein ‘Kuddelmuddel’; die Modell-Interpretationen und der Teil "Für Fortgeschrittene" versammeln nur Allgemeinplätze; das Buch ist, formal gesehen, als überanstrengtes Entertainment einzuordnen; die Lektüre ist strapaziös. Man sieht: ein Totalverriss.

Kritische Analyse

Ich werde nun die Rezension Schritt für Schritt kommentieren und analysieren. Die Informations- und die Bewertungsteile werden nach den Qualitätsstandards geprüft.

Zu 1. Dass Stephan ihre negative Einschätzung gleich zu erkennen gibt, ist kein Nachteil, denn es erleichtert die Orientierung. Da die eigentliche Auseinandersetzung erst später erfolgt, kann das Votum "verspricht viel, hält wenig" hier noch vernachlässigt werden.
Das Zitat ist gut gewählt, es zeigt die Stoßrichtung des Unternehmens an. Stephan bemüht sich jedoch nicht, dieses Unternehmen etwas plastischer werden zu lassen. Im Kontext des anfänglichen Ablehnungs-Signals und der unmittelbar folgenden Kritik, der Autor wolle die literaturwissenschaftliche Mythosforschung, die es doch bereits gebe, offenbar neu erfinden, bleibt nicht viel mehr übrig als ‘signalisiert einen hohen Anspruch, der nicht eingelöst wird’. Das ist ein erster Verstoß gegen die Fairnessregeln, denn der Informationspflicht wird nicht hinlänglich genügt.
Ich greife deshalb auf das Buch zurück, um das Konzept, die übergreifende Zielsetzung näher zu erläutern. Angesetzt wird bei folgendem Befund: Es gibt eine Vielzahl literaturwissenschaftlicher - wie auch anderer wissenschaftlicher - Arbeiten, die eine Mythos-Terminologie verwenden. Als Beispiele werden einige Titel oder Untertitel angeführt, z.B.: "Zum mythischen Bewußtsein in der Literatur des 20. Jahrhunderts", "Trivialmythen in Elfriede Jelineks Romanen", "Mythos Italien". Bereits bei der ersten Reflexion liegt die Vermutung nahe, dass unter ‘Mythen’, ‘Mythos’, ‘mythisch’ usw. dabei sehr unterschiedliche Größen verstanden werden, dass also eine terminologische Verwirrung besteht.
Um für diese Verwirrung und die damit zusammenhängenden Probleme zu sensibilisieren, wird dann eine ausführliche Analyse des Mythos-Sprachgebrauchs im Alltag und in den Medien vorgelegt, die zu dem Ergebnis gelangt, dass über 60 Bedeutungen und Bedeutungsfacetten von ‘Mythos’ zu unterscheiden sind. Ein entsprechendes Bedeutungschaos herrscht in mehreren Wissenschaften; auf eigene Spezialstudien wird verwiesen.
Wenn nun ein Begriff wie ‘Mythos’, der in vielen wissenschaftlichen Texten eine zentrale Rolle spielt, in ganz unterschiedlicher Bedeutung gebraucht wird, so besagt das hinsichtlich des Sachbezugs dieser Arbeiten, dass sie ganz unterschiedliche Phänomene und Probleme behandeln, was jedoch häufig unerkannt bleibt. Will Stephan wirklich bestreiten, dass dies für eine Wissenschaft kein guter Zustand ist, dass hier ein echtes Problem vorliegt? Genau dieses Problem soll aber in Teil I des Buches bewältigt werden. Dazu dienen: Untersuchungen des Mythos-Sprachgebrauchs, die Formulierung von Sprach-Empfehlungen, die Ausdifferenzierung von Arbeitsfeldern. Angestrebt wird, den Leser mit einem Instrumentarium zu versorgen, das es ihm z.B. erlaubt zu erkennen, dass der eine Text mit Mythos-Terminologie Vorurteile kritisiert, der zweite Bildforschung betreibt, der dritte Aussagen über die Funktion öffentlicher Symbolfiguren macht.
Stephan informiert also nicht hinlänglich über das Buchkonzept. Noch bedenklicher ist, dass sie verkennt, dass ein relevantes Problem behandelt wird: Terminologisches Chaos erschwert den Erkenntnisgewinn und gefährdet die wissenschaftliche Qualität. Stephan behandelt hingegen die Bedrohung der wissenschaftlichen Arbeit durch terminologische Verwirrung auf suggestive Weise als nicht existent. Das ist grob irreführend und der Sache nach verfehlt.

Zu 2. Die mangelhafte Aufarbeitung des Buchkonzepts führt direkt zu einer Negativbewertung. Die These, der Versuch des Aufbaus einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung sei unnötig, da es diese Disziplin bereits in einer wissenschaftlich befriedigenden Form gebe, beruht auf einem gravierenden Missverständnis der Zielsetzung. Diese These scheint nämlich auch die Annahme zu implizieren, ich würde so etwas wie einen absoluten Neubeginn anstreben. Wohl deshalb verweist Stephan auf das "hohe Niveau [...], das die Mythosforschung bereits mit Blumenbergs Arbeit am Mythos (1979) erreicht hatte". Tatsächlich unterstelle ich keineswegs, dass es keine wertvollen Beiträge zur literaturwissenschaftlichen Mythosforschung zu verzeichnen gibt. Der unterstellte "hohe Anspruch", einen absoluten Neubeginn vollziehen zu wollen, wird überhaupt nicht erhoben. Der tatsächliche Anspruch ist erheblich bescheidener, und das von Stephan zuvor gebrachte Zitat zeigt bereits die Richtung an: In Teil I geht es um die Sensibilisierung für das begriffliche Chaos, um Gegenmittel, um Vorschläge zur sinnvollen Zuordnung der heterogenen Textmenge zu Arbeitsfeldern wie ‘literaturwissenschaftliche Mythosforschung i.e.S.’, ‘Bildforschung’, ‘Symbolforschung’ usw. In keiner Weise vertrete ich hingegen die Auffassung, alles bisher im mythologischen Bereich Geleistete sei null und nichtig. In Teil I wird also keine Begründung im Sinn eines absoluten Neubeginns, sondern im Sinn einer besseren Organisation des ‘Gesamtfeldes’ durch terminologische Bewußtheit und sachgemäße Bestimmung der tatsächlich behandelten Problematik angestrebt.
Der zugehörige Entwurf eines Mythos-Verbunds bringt einige Folgelasten mit sich. So müssen z.B. literaturwissenschaftliche Arbeiten mit Mythos-Terminologie und Mythos-Bezug auf die genannten Punkte hin kritisch analysiert werden. In den Beispielanalysen von 6 solcher ‘literaturwissenschaftlicher Mythostexte’, die das Buch enthält, geht es nie darum, diese Arbeiten völlig zu verwerfen und einer ‘vorwissenschaftlichen’ Phase (vor der Erfindung des Rads) zuzuweisen. In der Hauptsache ist es vielmehr darum zu tun, begriffliche Verwirrungen zu markieren und Arbeitsfeld-Zuordnungen vorzunehmen, während die konkreten Untersuchungsergebnisse in der Regel unbestritten bleiben.
Kurzum, ein unbegründetes Vorurteil über die Zielsetzung des Buches wird von Stephan als gesicherter Befund behandelt, und es führt direkt zum Negativ-Votum "verspricht viel, hält wenig".

Zu 3. In diesem Schritt wird vorweg das Scheitern des vorgelegten Versuchs behauptet. Das "hehre Ziel" werde "in keiner Weise eingelöst". Da die Kritikpunkte erst noch formuliert werden, kann ich gleich weiter gehen.

Zu 4. Der erste Einwand lautet: "Statt der begrifflichen Klärung werden im Kapitel ‘Mythos überall’ 73 ‘Mythos-Bedeutungen’ unterschiedlichster Provenienz zusammengestellt". Nach den bisherigen Ausführungen dürfte bereits klar sein, dass es sich hier nicht um eine sinnvolle, geschweige denn um eine berechtigte Kritik handelt. Die ausführliche Untersuchung zum Mythos-Sprachgebrauch im Alltag und in den Medien (S. 15-68) strebt doch überhaupt nicht die definitive Klärung des Mythosbegriffs an, sondern unterzieht 117 über mehrere Jahre gesammelte Texte mit Mythos-Sprachgebrauch (von ZEIT-Artikeln bis zu Werbeanzeigen) einer semantischen Analyse, um auf das begriffliche Chaos aufmerksam zu machen und für terminologische Probleme zu sensibilisieren. Dass dies gelingt, kann wohl nicht bestritten werden. Da Stephan die - klar formulierte - Zielsetzung aber auf grobe Weise missversteht, ja geradezu in ihr Gegenteil verkehrt, erscheinen ihr die Analysen selbst als verwirrend und unnötig. Der Nachweis der extremen Bedeutungsvielfalt (die in vergleichbarer Weise in mehreren Wissenschaften anzutreffen ist) wird schlicht ignoriert.
Als zweiter Einwand kommt hinzu, dass "es sich ‘eher um Zufallsfunde’ denn um ‘systematische Recherche’ handle, wie der Verf. selbst konzediert". Hier werden zwei Ebenen auf sinnentstellende Weise vermengt. Auf S. 15 wird im Buch angemerkt, dass es sich bei den gesammelten Texten "eher um Zufallsfunde" handelt: Die Sammlung enthält die von mir über mehrere Jahre gefundenen Texte mit Mythos-Sprachgebrauch sowie darüber hinaus ‘Beigaben’ von Studierenden. Diese Zufallsfunde sind völlig ausreichend, um an ihnen die begriffliche Verwirrung zu demonstrieren. Deshalb heißt es: "es handelt sich eher um Zufallsfunde, die freilich, was die Haupttendenzen des Mythos-Sprachgebrauchs anbelangt, als einigermaßen repräsentativ gelten können".
Die Richtigkeit dieser Behauptung lässt sich leicht überprüfen: Man achte auf Medientexte mit Mythos-Sprachgebrauch, stelle die Frage ‘Was bedeutet Mythos in diesem Text?’, und man wird finden, dass in den meisten Fällen eine der in der semantischen Analyse herausgearbeiteten Hauptbedeutungen vorliegt.
Der gravierende Fehler, den Stephan hier begeht, besteht darin, dass sie die Rede von Zufallsfunden - die im Hinblick auf die Textsammlung, "wie der Verf. selbst konzediert", völlig korrekt ist - einfach auf die Bedeutungsbestimmungen überträgt, was unzulässig ist. Die wichtigeren Bedeutungen von ‘Mythos’ hätten offenkundig auch anhand von beliebigen anderen Medientexten demonstriert werden können. Stephans zweiter Einwand zeigt somit das Bemühen, die Ergebnisse der semantischen Analysen auf trickhafte Weise generell zu diskreditieren, indem sie als bloße Zufallsfunde abgetan werden.

Zu 5. Hier referiert Stephan zunächst einige meiner - z.T. bereits erläuterten - Programmpunkte, z.B. die Sprach-Empfehlungen und die Unterscheidung dreier Typen mythoshaltiger Literatur. Ihr Einwand lautet, dass all diese Ausführungen nur "den Anschein von Ordnung erwecken, in Wirklichkeit aber genau in den ‘Kuddelmuddel’ hineinführen, den der Verf. gerade überwinden will."
Auch diese - sehr schematisch bleibende - Kritik ist unberechtigt. Sie beruht auf den bereits aufgedeckten Missverständnissen. Wenn nicht nur Medientexte, sondern auch literaturwissenschaftliche Texte mit Mythos-Sprachgebrauch von der Begriffsverwirrung ‘befallen’ sind, so sollte etwas dagegen getan werden. Hier aber drängen sich die ergriffenen Maßnahmen geradezu auf: Sprach-Empfehlungen (z.B. die einfache Empfehlung, den Ausdruck ‘Mythos’ niemals ungeklärt zu verwenden), Ausdifferenzierung der Arbeitsfelder, auf denen sich die Fachtexte de facto bewegen, kritische Sichtung der Fachtexte nach den vorgeschlagenen Kriterien. Diese Anstrengungen, die Schritt für Schritt und methodisch reflektiert unternommen werden, als bloßen "Anschein von Ordnung" zu werten, entbehrt jeder Grundlage.
Die von Stephan vorgebrachten einzelnen Kritikpunkte sind zwar verfehlt, aber in ihrer inneren ‘Logik’ sehr wohl verstehbar. Wer ernsthaft meint, ich hätte mir das Ziel gesetzt, eine radikale Neubegründung der literaturwissenschaftlichen Mythosforschung, die wieder bei Null anfangen wolle, zu vollziehen, hat - wenn eine Korrektur dieser Meinung durch die ‘Text-Tatsachen’ nicht mehr zugelassen wird - gar keine andere Möglichkeit, als jeden einzelnen Argumentations- und Arbeitsschritt als Konsequenz des "hohen Anspruchs" einzuordnen und so ebenfalls völlig zu verwerfen. Genau nach diesem Prinzip verfährt Stephan.

Zu 6. Die Rezensentin wendet sich nun den "beiden ‘Modell-Interpretationen’" und damit den Teilen III und IV zu. Die - wiederum sehr allgemein gefaßte - Kritik lautet: Sie "halten aufgrund der schematischen Abfolge von ‘Basis-Analyse’, ‘Basis-Interpretation’ und ‘Spezielle Probleme’ [...] keinerlei interpretatorische Überraschungen bereit, sondern versammeln Allgemeinplätze".
Wie schon im 1. so ist auch im 6. Schritt der Informationspflicht nicht hinlänglich Genüge getan. Der Leser erfährt überhaupt nicht, was ich unter einer ‘Basis-Interpretation’ verstehe und welche Ziele damit verfolgt werden; er kann sich also kein Bild von der Angelegenheit machen und wird von Stephan nur mit der globalen Kritik versorgt, dies alles sei wissenschaftlich unergiebig und uninteressant.
Ich greife deshalb wieder auf das Buch selbst zurück. Der Vergleich zeigt, dass Stephan Teil II (Grundsätzliches zur wissenschaftlichen Textinterpretation) ganz ausgespart hat. In diesem Teil wird das Konzept der Basis-Interpretation eingeführt und argumentativ verteidigt. Ich konzentriere mich auf einige Hauptpunkte. Ziel ist es, ein Interpretationsverfahren vorzuschlagen, das ausschließlich auf die Lösung kognitiver Probleme ausgerichtet ist. Aufgrund dieser Ausrichtung sind die Interpretationsergebnisse nach wissenschaftlichen Standards prüfbar, die mit denen anderer Disziplinen vergleichbar sind.
Anthropologischer Ausgangspunkt ist das Theorem von der für menschliche Lebensformen konstitutiven Gebundenheit an (variable) Überzeugungssysteme, deren fundierende Schicht stets aus Weltbildannahmen und Wertüberzeugungen besteht. Angenommen wird, dass das jeweilige Überzeugungssystem eine Prägewirkung entfaltet; das gilt z.B. für Handlungen und deren Objektivationen ebenso wie für Institutionen. Entsprechend wird der Erforschung der Überzeugungssysteme eine zentrale Stellung zugewiesen.
Wenn nun den Überzeugungssystemen eine Prägewirkung zukommt, so bedeutet das für jedes Kunstphänomen, dass es als durch ein ganz bestimmtes Überzeugungssystem geprägtes Gebilde aufzufassen ist. Das gilt auch speziell für literarische Texte. Daraus ergibt sich als Basisaufgabe des wissenschaftlichen Umgangs mit Kunstphänomenen aller Art, Hypothesen über die jeweils prägenden Instanzen zu bilden, um so das Gebilde in seiner Tiefenstruktur verstehen und erklären zu können. Die Interpretationsarbeit ist dabei auf eine systematische Deutung ausgerichtet, die das Kunstphänomen in seiner Eigenart und Besonderheit zu erfassen vermag. Der jeweilige literarische Text z.B. ist so, wie er ist, weil er geprägt ist durch genau dieses Überzeugungssystem, das zu genau diesem Literaturprogramm geführt hat, aus dem genau dieses spezielle Textkonzept erwachsen ist. Auf der anderen Seite ergibt sich aus der anthropologischen Grundthese die Aufgabe, die Rezeptionen von Kunstphänomenen als durch die Überzeugungssysteme der Rezipienten gesteuerte Vorgänge zu untersuchen.
Hier ist es von entscheidender Bedeutung, zwischen Sinn-Rekonstruktion und Sinn-Besetzung zu unterscheiden. Die kognitiv-wissenschaftliche Interpretation ist bestrebt, das So-Sein des jeweiligen Textes mittels Hypothesenbildung über die textprägenden Instanzen, vor allem über das Überzeugungssystem des Textproduzenten, zu erklären; ihr geht es um die Rekonstruktion des in den Text gewissermassen eingeschriebenen Sinngehalts. Die Textrezeptionen sind jedoch überwiegend nicht auf kognitive Ziele ausgerichtet, sie erfüllen sehr häufig lebenspraktische Aneignungsfunktionen. Der Text wird hier dem Überzeugungssystem des Rezipienten dienstbar gemacht. Diese Indienstnahme wird dadurch möglich, dass der Text-Rezipient wesentliche Teile seines eigenen Überzeugungssystems auf den Text projiziert, wodurch dieser in eine das eigene Überzeugungssystem bestätigende Instanz verwandelt wird. Es wird also eine systemkonforme Sinn-Besetzung des Textes vollzogen. Der Sinngehalt des Kunstphänomens wird auf projektiv-aneignende Weise an das Überzeugungssystem des Interpreten angepasst, mit ihm verschmolzen. Interpretationen von Kunstphänomenen, die primär der ‘Weltanschauungs’-Vermittlung und -Verstärkung dienen, sind einerseits unverzichtbar, da sie zur Lebensbewältigung beitragen, die immer notwendig ist; andererseits aber handelt es sich nicht um kognitiv-wissenschaftliche Bemühungen. Sie treten freilich häufig in wissenschaftlichem Gewand auf - als elaborierte lebenspraktische Deutungen mit hohem Orientierungswert, aber geringem kognitivem Wert. Diese Koppelung bleibt jedoch zumeist unerkannt.
Deutungsaktivitäten, deren Hauptleistung darin besteht, eine Lebensorientierung zu vermitteln oder eine bereits vorhandene Orientierung zu verstärken bzw. zu bestätigen, spielen z.B. in der Literaturwissenschaft eine erhebliche Rolle. Aber sie treten zu Unrecht mit wissenschaftlichem Anspruch auf: Sie vollziehen eine projektiv-aneignende Deutung, die direkt vom eigenen Überzeugungssystem gesteuert wird, erwecken aber fälschlich den Eindruck, eine primär kognitive Leistung zu erbringen.
Die beiden Modell-Interpretationen sind nun dem dargelegten interpretationstheoretischen Konzept direkt verpflichtet. Um die weit verbreiteten projektiv-aneignenden Deutungsverfahren so weit wie möglich ausschalten zu können, wird ein Arbeitsprogramm formuliert, das strikt auf die Lösung kognitiver Interpretationsprobleme ausgerichtet ist. Das zentrale kognitive Problem bei jedem literarischen Text lautet: Wie kommt es, dass der Text so ist, wie er ist?
Das Methodenkonzept der Basis-Interpretation ist der Versuch, eine Folge von Arbeitsschritten zu formulieren, die Orientierung für die strikt kognitiv ausgerichtete Arbeit am Text zu geben vermag. Stephan spricht hier von "schematischer Abfolge" und lässt durchblicken, dass sie davon nichts hält. Eine argumentative Auseinandersetzung erfolgt jedoch nicht. Und das angesprochene Problem der ‘Ideologieproduktion’ in literaturwissenschaftlichen Textinterpretationen wird einfach übersehen.
Auch der Vorwurf, es würden nur "Allgemeinplätze" versammelt, also letztlich triviale Ergebnisse erreicht, überzeugt nicht. Denn in beiden Fällen wird eine systematische Interpretation eines mythoshaltigen Textes entwickelt, die ein hohes Maß an erklärender Kraft für den Textbestand besitzt. Leistungen dieser Art werden jedoch in den Fachinterpretationen nur selten erbracht. Auch für Punkt 6 gilt also: Es gibt deutliche Defizite im Informations- wie im Kritikteil.

Zu 7. In diesem Schritt geht es um den letzten Teil des Buchs, in dem der interpretationstheoretische Ansatz weiter ausgebaut wird. Der Vorwurf, bloß "Allgemeinplätze" zu liefern, wird ausdrücklich auch auf diesen Teil ausgedehnt.
Diese Kritik ist befremdlich. Es ist nicht nachvollziehbar, wie man die sich aus dem theoretisch-methodischen Ansatz ergebende brisante These, ein erheblicher Teil der Textinterpretationen der Fachliteratur bestehe aus projektiv-aneignenden Deutungen, die zu Unrecht als wissenschaftliche Erkenntnisleistungen auftreten, unter der Rubrik ‘Allgemeinplätze’ verbuchen kann. Auch der konkrete Nachweis, dass psychoanalytische Textinterpretationen in vielen Fällen zu diesen ‘ideologischen’ Deutungen gehören, ist weniger eine Bestätigung als eine Irritation gängiger Meinungen. Kurzum, auch im 7. Schritt stößt man auf Defizite.

Zu 8. Das Gesamturteil lautet: "Als Vorlesung mag das alles hingehen, als Buch ist das aber in höchstem Grade ärgerlich." Da keiner der vorgebrachten Einwände einer sachlichen Prüfung standhält und da die Rezensentin wesentliche Teile der Buchkonzeption nachweislich grob missverstanden hat, muss auch das zusammenfassende Schlussurteil als unbegründet gelten.

Zu 9. Im letzten Schritt wendet sich Stephan der Form bzw. ‘Machart’ des Buches zu und gelangt erneut zu einem vernichtenden Urteil. Einige Stichworte zur Erinnerung: "der bemüht ‘lockere’ Ton", Tepe stilisiert "sich selbst zum Mythos", "überanstrengtes Entertainment".
Vorab möchte ich die Auffassung artikulieren, dass Rezensenten gut daran tun, hinsichtlich der Schreibweise/Stilistik und überhaupt der Machart des jeweils besprochenen wissenschaftlichen Sachbuchs ein gewisses Maß an Großzügigkeit walten zu lassen, da vieles davon Geschmackssache ist. Die Grenzen der Großzügigkeit sind aber dort erreicht, wo z.B. eine bestimmte Schreibweise den wissenschaftlichen Ertrag und die wissenschaftliche Qualität gefährdet.
Wieder fällt auf, dass Stephan der Informationspflicht nicht genügt und nicht zunächst fair beschreibt, wie das Buch gemacht ist. Der ‘literarische’ Teil, den Jens O. Hoffmann geschrieben hat, macht nur etwa 5% des Buches aus: Am Ende jedes Teils finden sich ein Abschnitt Der mythenfreie Raum MYR, in dem er ironisierend, parodistisch, satirisch Motive des vorangegangenen Sachteils aufgreift. Diese Einschübe sind überarbeitete Fassungen von aufgezeichneten Kurzbeiträgen, die stets in den letzten 5 Minuten der dem Buch zugrunde liegenden Vorlesungsreihe abgespielt wurden. Diese literarischen Teile wurden aber nicht nur aus einem ‘historischen’, sondern auch aus einem sachlichen Grund in den wissenschaftlichen Text integriert: Durch die ironisch-satirischen Brechungen können zusätzliche Erkenntniseffekte erzielt werden. Naheliegend ist es daher, mit dem Buch folgendermaßen umzugehen: Wer die literarischen Partien nicht mag, aus welchen Gründen auch immer, der überschlägt sie einfach und konzentriert sich auf den Sachteil.

Stephan unterlaufen auch in diesem Kontext gravierende Fehleinschätzungen.

  1. Sie erkennt nicht, dass der für sie besonders anstößige Absatz auf S. 11 gar nicht von mir selbst stammt.
  2. Sie schreibt das Bemühen um einen "lockeren" Entertainment-Ton nicht nur den literarischen Einschüben, sondern dem gesamten Buch zu. Davon aber kann überhaupt keine Rede sein. Der Autor bemüht sich um ein hohes Maß an Klarheit, Verständlichkeit und Sachlichkeit - Entertainment-Elemente wird man hingegen in den fünf Hauptteilen nicht finden.
  3. Entsprechendes gilt für den Vorwurf, im Buch werde "quasi eine ‘Ein-Mann-Show’" abgezogen. Dabei gibt es diese ‘Show’-Elemente im Sachteil gar nicht! Wenn auf S. 11 (seitens des Koautors) von "Radio Show" bzw. "Manic Monday Radio Show" die Rede ist, so sind - wie leicht erkennbar ist - stets die 5-Minuten-Schlussbeiträge gemeint, nicht die eigentliche Vorlesung.
  4. Der harte Vorwurf, ich würde mich "selbst zum Mythos" stilisieren, beruht auf demselben groben Missverständnis wie die schon diskutierten Einwände. Die zitierte Passage stammt vom Koautor und ist Teil seiner parodistisch-satirischen Kommentare. Das geht nicht nur aus der bereits erwähnten Überschrift und der gesamten Passage hervor, sondern speziell auch aus dem inkriminierten Satz, den Stephan unvollständig wiedergibt. "Deswegen wurde die Idee der Raumstation MYR übernommen [...]. Im Dienst einer fröhlichen Wissenschaft und im Dienste von Peter Tepe, dessen Vorlesungen selbst schon zum Mythos geworden ist, wenn man Mythos soundso definiert - aber das können Sie jetzt alles hier genauer nachlesen." Es ist schwer nachvollziehbar, dass eine Literaturwissenschaftlerin die ironische Brechung, die hier vorliegt, ‘übersehen’ kann - gerade auch vor dem Hintergrund des Nachweises, dass im Alltags- und Mediensprachgebrauch vielfältige Bedeutungen bzw. Bedeutungsfacetten von ‘Mythos’ kursieren.

Ich fasse zusammen und beziehe mich dabei auf die anfangs formulierten Qualitätsstandards. Die Rezension informiert nicht korrekt über den behandelten Text. Inbesondere gelingt es Stephan nicht, das Konzept, die übergreifende Zielsetzung des Textes zutreffend zu erfassen. Ganz verfehlt ist die Annahme, ich würde einen absoluten Neuanfang anstreben. Auch bei der Darstellung der Hauptthesen und -ergebnisse sind erhebliche Schwächen erkennbar geworden. So wird z.B. der Nachweis des Bedeutungschaos überhaupt nicht beachtet und der Sinn der semantischen Analyse ins Gegenteil verkehrt. Das interpretationstheoretische Konzept mit seinen brisanten Konsequenzen wird ganz ausgeblendet; das zentrale Konzept der Basis-Interpretation mit keinem Wort erläutert. Bei Stephan fehlen also nicht nur einige essentials, sondern wesentliche Aspekte werden auch verzerrt dargestellt. Hinzu kommen grobe Falschinformationen über die Machart des Textes.
Was die Kritikpunkte anbelangt, so sind diese, wenn man um die zugrunde liegenden Mißverständnisse nicht weiß, zunächst einmal plausibel; so kann es z.B. wissenschaftliche Bestrebungen zur Neuerfindung bereits vorliegender Räder geben. Textkonform ist die Kritik jedoch in keinem einzigen Fall. Die kritischen Einwände beziehen sich mehrfach nicht auf das, was im Text tatsächlich behauptet wird. Der Haupteinwand beruht auf einem krassen Missverständnis, und an anderen Stellen begnügt sich die Rezensentin mit der Nennung von Negativwendungen wie "bloßer Anschein von Ordnung" und "versammelt Allgemeinplätze". Ein größerer argumentativer Aufwand ist nicht erkennbar.

‘Ideologische’ Funktionen defizitärer Rezensionen

Im letzten Teil kehre ich auf die allgemeine Ebene zurück und stelle vertiefende Überlegungen zur ideologischen Funktion defizitärer Rezensionen an. Ausgeklammert bleiben ‘gute’ Rezensionen, die fair über Sachbücher informieren und die gegebenenfalls auch eine begründete und textkonforme Kritik formulieren, die bis zum Totalverriss gehen kann.
Ich greife zurück auf die oben skizzierte Unterscheidung von zwei Typen der Interpretation literarischer Texte. Es gibt Deutungsaktivitäten, deren Hauptleistung darin besteht, kognitive Probleme zu lösen, die im Zusammenhang mit literarischen Texten auftreten (Typ 1), und Deutungsaktivitäten, deren Hauptleistung darin besteht, eine Lebensorientierung zu vermitteln oder eine bereits vorhandene Orientierung zu verstärken bzw. zu bestätigen (Typ 2). Interpretationen des Typs 2, die mit wissenschaftlichem Anspruch auftreten, sind prinzipiell zu kritisieren. Diese Unterscheidung gilt nicht nur für die Interpretation von literarischen Texten, sondern auch für die von Sachtexten. Auch hier kann es zu projektiv-aneignenden Deutungen kommen, die direkt vom eigenen Überzeugungssystem gesteuert sind, aber fälschlich den Eindruck erwecken, eine primär kognitive Leistung zu erbringen. Defizitäre Rezensionen lassen sich nun diesem Deutungstyp (Typ 2) als besondere Variante zuordnen. Projektiv-aneignende Rezensionen bringen immer Bestätigungseffekte für das Überzeugungssystem des Rezensenten hervor. Dabei sind zwei Grundformen zu unterscheiden: die Bestätigung durch Positivierung und die durch Negativierung.
Zunächst zur Bestätigung durch Positivierung. Man nehme ein Sachbuch, das Auffassungen vertritt, die mit denen des Rezensenten übereinstimmen, zumindest sehr weitgehend. Auch das textprägende Überzeugungssystem ist dem des Rezensenten eng verwandt. Auf der anderen Seite weist der Text, so die Annahme, erhebliche kognitiv-wissenschaftliche Mängel auf.
Das Entstehen einer ideologischen Rezension kann nun leicht nachvollzogen werden. Wenn der Rezensent die Defizite ‘übersieht’, sei es nun unbewusst oder bewusst, kann er das Bild einer großartigen wissenschaftlichen Leistung zeichnen, die zugleich den Vorteil hat, dass sie das eigene Überzeugungssystem stützt oder verstärkt. Der defizitäre Text wird durch eine besondere Form der selektiven Wahrnehmung positiviert, sozusagen geschönt. Erst diese Positivierung macht den gewünschten Verstärkereffekt möglich. Eine fragwürdige Arbeit ist ungeeignet, die eigene Position zu stärken, ja, sie kann leicht den gegenteiligen Effekt haben.
Es macht natürlich einen wichtigen Unterschied, ob der Rezensent den Text bewusst verfälscht, indem er die sehr wohl wahrgenommenen Schwächen einfach unterschlägt, oder ob er sie überhaupt nicht wahrnimmt. Den letzteren Fall könnte man auf die Formel bringen ‘Ein Wissenschaftler, der auf der richtigen Seite steht, wird wohl auch eine hervorragende wissenschaftliche Leistung vollbracht haben’. Hinsichtlich des hier primär interessierenden Bestätigungseffekts ist diese Unterscheidung jedoch von sekundärer Bedeutung.
Theoretisch noch interessanter ist nun die Bestätigung durch Negativierung. Man nehme ein Sachbuch, das Auffassungen vertritt, die mit denen des Rezensenten nicht übereinstimmen, zumindest sehr weitgehend. Auch das textprägende Überzeugungssystem ist von dem des Rezensenten deutlich verschieden. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass der Text keine größeren kognitiv-wissenschaftlichen Mängel aufweist.
Wie kann es hier zu einer ideologischen Rezension kommen? Indem der Text, sei es nun unbewusst oder bewusst, in einen höchst defizitären Text verwandelt wird. Das Buch wird durch eine besondere Form der selektiven Wahrnehmung negativiert. Der Rezensent kann so das Bild einer völlig unbrauchbaren wissenschaftlichen Leistung zeichnen. Dieses Bild wirkt, da es die eigene Position als überlegen erscheinen läßt, als deren Verstärker. Durch geeignete Negativierung wird also ebenfalls ein Bestätigungseffekt erzeugt.
Die Negativierung kann auf mehreren Ebenen erfolgen. Erstens kann das gesamte Konzept des Buches durch ‘Fehllektüre’ in ein von vornherein verfehltes Konzept verwandelt werden, das abgelehnt werden muss. Zweitens können einzelne Argumentationsschritte und Thesen auf dieselbe Weise behandelt werden. Und drittens kann auch die Machart des Buches durch Fehllektüre ins Zwielicht gerückt werden. All diese Techniken machen aus einem Konkurrenten, der für die eigene Position bedrohlich sein könnte, eine Figur aus Pappe, der sich mit einem gespitzten Finger umkippen läßt. Dazu reicht es dann aus, ‘Bannwörter’ auszusprechen; eine anstrengendere argumentative Auseinandersetzung ist hingegen gar nicht nötig. Eine solche Auseinandersetzung wird im übrigen auch häufig gescheut, denn sie würde ja über kurz oder lang zur Problematisierung des eigenen Überzeugungssystems führen müssen.
Die Negativierung eines von einem andersartigen Überzeugungssystem getragenen Textes schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen erscheint ein Text, der von seinem kognitiv-wissenschaftlichen Gehalt her für die Position des Rezensenten folgenreich sein könnte, nun als ein völlig irrelevanter Text; dabei ist selbstverständlich der Schein sachbezogener Begründung unerlässlich. Zum anderen leuchtet die eigene Position durch den ideologischen Verriß als die sachlich überlegene auf und wird somit bestätigt.
Zum Abschluß gehe ich noch kurz auf die Frage ein, wie sich ideologische Rezensionen verhindern lassen. Nach meiner Auffassung ist die Zurückdrängung solcher Buchbesprechungen zwar prinzipiell möglich, aber de facto nur schwer zu erreichen. Bloß in extremen Fällen ist solchen Rezensionen die ‘Voreingenommenheit’ direkt anzusehen. Meistens sind sie auf den ersten Blick nicht von ‘guten’ Rezensionen zu unterscheiden. Das aber heißt: Nur wenn man das besprochene Buch kennt, sei es nun als Leser oder als Autor, vermag man die negativierenden Verzerrungen zu erkennen. Da eine solche ‘Kontrolllektüre’ mit erheblichem Aufwand verbunden ist, bleiben ideologische Rezensionen häufig unentdeckt. Es ist denkbar und wünschenswert, dass z.B. Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften von Zeit zu Zeit eine solche Kontrolllektüre unternehmen, zumindest wenn ein Anfangsverdacht besteht. Außerdem können engagierte Leser und betroffene Autoren intervenieren. Übertriebene Hoffnungen auf die definitive Überwindung ideologischer Rezensionen sollten damit jedoch nicht verbunden werden.
Die Sachlage ist bei ideologischen Rezensionen übrigens strukturell identisch mit der bei ideologischen Interpretationen literarischer Texte. Wenn man den interpretierten Text nicht gründlich kennt und darüber hinaus kritisch fragt, ob sich der Deutungsansatz auch systematisch durchführen, d.h. auf den gesamten Textbestand anwenden lässt, erscheinen alle oder zumindest sehr viele Deutungsangebote als plausibel und ‘gleichberechtigt’. Eine wirkliche kognitiv-wissenschaftliche Leistung unterscheidet sich hinsichtlich der ‘Oberflächenstruktur’ auch in diesem Bereich häufig nicht von einer projektiv-aneignenden Interpretation.
So wie oft diejenige Deutung eines literarischen Textes akzeptiert wird, die am besten zum Überzeugungs- und Wertsystem des jeweiligen Rezipienten passt, so erfolgt auch in vielen Fällen die Rezension eines Sachbuchs nach derartigen Passungsgesichtspunkten, während kognitive Kriterien nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die sich aus dem Überzeugungssystem des Rezipienten hier, des Rezensenten dort ergebenden ‘Vormeinungen’ werden vielfach nicht als Hypothesen behandelt, bei denen zu prüfen ist, ob sie sich am Textganzen und an allen Textdetails mehr oder weniger oder gar nicht bewähren - sie werden vielmehr in Dogmen verwandelt, d.h. als bereits erwiesene ‘Wahrheiten’ angesehen, die gar keiner gründlichen Bewährungsprobe mehr bedürfen. Folgt man diesem dogmatischen Stil, so fällt es nicht mehr auf, dass man zentrale Sequenzen - des literarischen Textes hier, des Sachbuchs dort - entweder völlig ausgeblendet oder aber auf trickhafte Weise dem eigenen Ansatz durch Positivierung oder Negativierung dienstbar gemacht hat. Der dogmatischen Interpretationspraxis erscheint das eigene Vorgehen dabei als völlig unproblematisch und wissenschaftlich legitim.

 

Literatur

P. Tepe: Mythos & Literatur. Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung. Würzburg 2001.
Die einzelnen Schritte werden gegliedert und Ziffern zugeordnet, um die spätere Bezugnahme zu erleichtern.

[Inhaltsverzeichnis Band 1]