Anna Klapheck Textforum

Ein ewiges Wälzen von Steinen

Wolfgang Butzlaff sprach über „Gottfried Benn und Goethe“

Mit einem Vortrag „Gottfried Benn und Goethe“ wagte das Goethe-Museum (nicht zum ersten Mal) den Sprung ins 20. Jahrhundert. Schon die Reihenfolge der Namen ließ erwarten, daß es diesmal weniger um Goethe als um Benn gehen würde, den großen Lyriker aus der Mitte unseres Jahrhunderts (1886 - 1956). Ob sie alle, die da treulich zu den Vorträgen kommen und ihren Goethe im Kopf haben, nun in gleicher Weise auch Benn kennen?

Wohl kaum. Der Redner Dr. Wolfgang Butzlaff, Oberstudiendirektor in Kiel, Germanist und Goethekenner, verstand es in kluger Weise, auch dem Nichtkundigen die Gestalt Benns nahezubringen. Er verlas unprätentiös und doch anrührend längere Textstellen und vollständige Gedichte. Über das engere Thema hinaus weitete sich der von reicher Kenntnis getragene, klare und fesselnde Vortrag zu der Frage nach dem Verhältnis des modernen Menschen zu Goethe überhaupt.

Benns tragisch umwitterte Gestalt, Arzt und Dichter zugleich, wurde erst vor wenigen Jahren durch die Veröffentlichung seiner Briefe an den Bremer Großkaufmann F. W. Oelze einer größeren Leserschaft eindringlich bewußt. Auf diese Briefe griff auch der Redner häufig zurück, denn in ihnen erschloß sich Benn wie sonst nirgends. Benns Aufsatz „Goethe und die Naturwissenschaften“, über den sich Oelze in spontaner Zustimmung brieflich geäußert hatte, bildete den Ausgangspunkt einer 24 Jahre währenden Korrespondenz. Der „Altmeister“, unser „olympischer Urgroßvater“ bleibt der Angelpunkt ihres Gedankenaustausches.

Benns Verhältnis zu Goethe besteht jedoch in einer ständigen Ambivalenz zwischen Übereinstimmung und Vorbehalt. Goethes Harmoniestreben setzt Benn seine eigene Zerrissenheit gegenüber, und wenn in Goethes „Novelle“ der Ausbruch des Raubtieres durch besänftigende Musik unterbunden wird, so kommt Benn zu dem lakonischen Schluß: „Heute beißen die Tiger“. Das „Sieghafte“ in Goethe ist ihm zuweilen „unerträglich“; gleichwohl bleibt er mißtrauisch, ob nicht auch Goethe seine „Zusammenbrüche“ gehabt habe und es nur verstand, sie zu verschleiern.

In zwei Gedankenreihen, Erkenntnis und dichterische Gestaltung betreffend, ging der Redner dem Bennschen Goethe-Bild nach. Benn identifiziert sich mit Goethes Naturanschauung, seine Lyrik ist durchsetzt mit Goetheschem Gedanken - und Wortgut. Im Goetheschen „Sturm und Drang“ sind expressionistische Züge vorausgenommen. Benns Nihilismus und Pessimismus war Goethe nicht fremd, auch Goethes Leben war ein ewiges „Wälzen von Steinen“. In Goethes Gedichten finden sich Dunkelheiten und Verschlüsselungen wie in denen von Benn. Butzlaff sprach von einer „produktiven Rezeption“, die Benn an Goethe binde. Man trifft freilich auch auf Parodien und Klagen; der Optimismus Goethes stehe in hartem Gegensatz zu der tragischen Weltsicht Benns und seiner Trauer um den Verlust des unversehrten Menschenbildes.

Auch im Hinblick auf das dichterische Werk wußte der Redner viele Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. In Benns früher Prosagestalt des Arztes „Rönne“ ist Goethes „Werther“ aktualisiert worden, ist der radikal Einsame und seine Auslöschung durch den Tod gemeint. Gewiß gibt es in Benns späterem Werk vieles, das unabhängig von Goethe entstanden ist, doch findet auch er, der einstige Expressionist, abermals Goethe vergleichbar, hin zur „Form“, die ihm hilft, die Spannungen seiner Existenz zu überbrücken.

Benn, so der Redner gegen Schluß, habe Goethe „gebraucht“, ihn wohl auch „mißbraucht“, um die eigene Person zu demonstrieren. Aber die „totale Betroffenheit“ durch Goethe, die „Angst vor Überwältigungen durch ihn, denen man schlechterdings nicht gewachsen ist“, so schreibt er an Oelze, - sie endeten nie.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 18. April 1983