Anna Klapheck Textforum

Die Utopie des ewigen Friedens

Prof. Kurz sprach über Goethes „Märchen“

Das 1794 auf Aufforderung Schillers für die Zeitschrift „Die Horen“ geschriebene „Märchen“ ist eines der seltsamsten Gebilde Goethescher Phantasie. Traumbilder steigen auf, geheimnisvolle Worte werden gewechselt. Irrlichter gaukeln umher, eine Schlange wird durch die Berührung mit Gold durchsichtig, ein unterirdisches Heiligtum mit ehernen Bildsäulen öffnet sich, ein entseelter Jüngling erwacht zu neuem Leben. Und was der Merkwürdigkeiten mehr sind.

Ist das alles nur schalkhaftes Spiel? Sollen wir uns mit bunten Bildern begnügen und sie „wie eine Musik“ auf uns wirken lassen? Oder liegt dem Geschehen ein tieferer Sinn und greifbare Symbolik zugrunde? „Das Märchen von der Gesellschaft“ war der Titel eines Vortrags, den Professor Kurz früher Düsseldorf, heute Inhaber des Lehrstuhls für Germanistik in Amsterdam, vor den Goethe-Freunden hielt. Er stellte das Werk in den Zusammenhang seiner Zeit und versuchte, es nach allen Seiten aufzuschlüsseln.

Obgleich als selbständige Dichtung gedruckt, ist das „Märchen“ das abschließende Stück einer Rahmenerzählung, die in Art von Boccaccios berühmter Novellensammlung unter dem Titel „Unterhaltungen deutscher Auswanderer“ eine Anzahl Geschichten zusammenfasst. Eine am linken Rheinufer ansässige deutsche Familie hat während der Französischen Revolution Zuflucht jenseits des Rheins gefunden und ist bemüht, durch das Erzählen von Geschichten über das Unglück des Tages Herr zu werden. Ein Emigrantenschicksal also.

Schillers „Horen“ wollten betont „unpolitisch“ sein, und so sollten auch aus den „Unterhaltungen“ die Interessen des Tages verbannt bleiben. Das wollte freilich nur teilweise gelingen, und in der Rahmenerzählung prallen die politischen Ansichten hart aufeinander. Die einzelnen Personen spiegeln die gesellschaftliche Situation der Zeit, und nur die „Baronesse“ drängt immer wieder auf Beherrschtheit und Toleranz. Die ersten sechs Erzählungen halten sich dann aber doch im wesentlichen an das Alltägliche. Sie sind ein wenig „skandalös“ und tun auch dem, was man gemeinhin „Klatsch“ nennt, unbefangen Genüge.

Nach solch breiter, sachlich reich beladener Einführung kam der Redner schließlich auf das „Märchen“ selbst zu sprechen. Gerade weil sein Inhalt so verwirrend ist, hatte Goethe die Möglichkeit, die Ereignisse der Epoche symbolhaft mit dem Stoff zu verflechten. Die Anspielungen reichen bis hin zu den einzelnen Personen; der „Alte“ mit der Lampe mag Goethe selbst sein. Kern der Dichtung ist jedoch der Wunsch nach der Wiederherstellung von Ordnung, nach Frieden und Versöhnung.

Der Fluß, immer wiederkehrendes Motiv, teilt die Welt in zwei Hälften: in ein Reich der Phantasie und eines der Wirklichkeit. Auf beiden Seiten herrschten Unglück und Verwirrung. Erst wenn eine Brücke die Ufer überspannt und damit die Verbindung – „Kommunikation“ würden wir heute sagen – hergestellt ist, kann sich die Utopie des ewigen Friedens erfüllen. Doch dieses Ziel ist nur dem erreichbar, der „sich mit vielen zur rechten Stunden vereinigt“. Kraft dazu gibt aber allein die Liebe – Liebe, die nach Goethes Auffassung „nicht herrscht, sondern bildet“.

Ein Rest des Unsagbaren, so Professor Kurz, bleibt gleichwohl in der Dichtung bestehen. Sie ist durchsetzt mit Goethescher Weisheit, die in der Überzeugung gipfelt, daß nur Vereinigung und gegenseitige Hilfestellung eine humane Gesellschaft herbeiführen. „Was ist erquicklicher als Licht? – das Gespräch.“

In der Hand manchen Besuchers sah man einen ehrwürdigen Goethe-Band, und ohne Kenntnis der Dichtung war der anspruchsvolle Vortrag kaum zu verstehen. So ist es doch Goethe selbst und nicht nur das am Schluss jeden Vortrags gastlich gebotene „Glas Wein“, der immer wieder eine so große Zuhörerschaft anzieht.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 14. März 1981