Anna Klapheck Textforum

Wörterbuch der Gegenwarts-Kunst

Der Kritiken-Band von Anna Klapheck

Dauer kann das für den Tag Geschriebene nicht beanspruchen; oft ist es am nächsten Tag bereits vergessen. Aber selbst solche Gesetze kennen ihre Ausnahmen. Auf einmal bemerkt man, daß das, was so flüchtig schien, Jahre und Jahrzehnte hindurch gültig, kraftvoll und lebendig blieb: als Dokument erlebter und reflektierter Zeitgenossenschaft, dessen Wert und Aussagekraft weit über den ursprünglich gegebenen Rahmen hinausweist.

Zu einem derartigen Dokument ist Anna Klaphecks Artikelsammlung geworden, die sie selbst ein „Buch der Erinnerung“ nennt: „Vom Notbehelf zur Wohlstandskunst – Kunst im Rheinland der Nachkriegszeit“(DuMont Buchverlag, 238 S., 24.80 DM); Anna Klapheck, in diesem Jahr 80 geworden, war und ist ein Glücksfall für die Kunstszene dieser Region und für die Rheinische Post, deren Kritikerin sie seit vielen Jahren ist. 1946, als Deutschland in Trümmern lag und auch die Verbindungsstränge zu der jungen und umwälzenden Kunst unseres Jahrhunderts längst verschüttet waren, meldete sich mit ihr eine Kunsthistorikerin zu Wort, die die Kunstentwicklung in den 20er und 30er Jahren hautnah miterlebt hatte und die nun als fast Fünfzigjährige nicht nur sehnsüchtig auf die Heimkehr der geschätzten Werte in die Museen wartete, sondern die auch offen war für alle sich neu abzeichnenden Tendenzen. Diese Verbindung von wacher Erinnerung und engagierter Neugierde erwies sich als wegweisende Klammer der Kunstberichterstattung und als sicherer Wall gegen provinzielle Einbrüche.

Die schreibende Kunsthistorikerin, später auch Professorin für Kunstgeschichte an der Düsseldorfer Kunstakademie, schwang sich dabei mit ihrem Wissensvorsprung nie zur dozierenden Lehrmeisterin auf. So wie sie mit kurzen und prägnanten Sätzen Situationen und Ereignisse vor dem Auge des Lesers plastisch werden ließ und Künstlerpersönlichkeiten skizzierte, so stellte sie in knappen, zielbewußten Bemerkungen Zusammenhänge her.

Dies ist nun alles nachzulesen, ja, nachzuerleben. Gerade für denjenigen, der die frühen Trümmerjahre, in denen der Kunstbetrieb mit seinen Improvisationen etwas Pionierhaftes hatte, nicht bewußt miterlebt hat, entsteht in dieser lockeren Folge von Artikeln über Ausstellungen, Galerien-Eröffnungen und Künstlergedenktage ein höchst anschauliches Bild einer außergewöhnlichen Zeit. Vor allem Anna Klaphecks Geschick, selbst in den kürzesten Artikeln etwas von der Persönlichkeit der Künstler und Kunstvermittler mitzuteilen, die Atmosphäre einzufangen, bringt einem die von ihr beschriebene und kritisierte Kunst so nahe.

So entsteht in diesem Buch jenseits der Kunstkritik ein Bild der Nachkriegszeit. Es ist ein Bild, das sich bewußt auf Düsseldorf und das nähere Rheinland bescheidet. Hier hat Anna Klapheck ihre zweite Heimat gefunden und hier kennt sie sich aus. Ihr kritischer Blick ging, oftmals auch für unsere Zeitung, weit über diesen Raum hinaus, zur documenta etwa oder nach London und Paris. Doch die Beschränkung auf die rheinischen Kunstkritiken beinhaltet auch ein Bekenntnis zu einer unverwechselbaren Landschaft, die allein Persönlichkeiten und Figuren wie Mutter Ey, Ewald Mataré, Joseph Beuys, aber auch Max Ernst hervorbringen konnte.

Das Persönliche, das Menschliche und Verbindliche sind Elemente, die diesen Artikeln Faszination verleihen, weil sie die Kunst zu einer beziehungsreichen, menschlichen Größe werden lassen.

Indem Anna Klapheck nicht aus der heutigen Hin-Sicht eine kleine Geschichte der rheinischen Kunst schrieb, sondern mit ihren aus und für den Augenblick geschriebenen Betrachtungen ein Mosaik der Kunstbeschreibung schuf, stellt sie sich auch heute mit ihrem jeweiligen Urteil der Kritik. Sie kann es guten Gewissens tun. Auch dort, wo sie irrte und sich selbst dann korrigierte. Beispielsweise liest man mit Vergnügen, wie sie 1957 die erste Begegnung mit den monochromen Bildern von Yves Klein bei Schmela in Düsseldorf ironisierend-abwartend verarbeitet, und wie sie drei Jahre später bei der erneuten Betrachtung von Kleins Arbeiten in Leverkusen eine Position bezieht, die nun zunehmend an Festigkeit gewinnt.

Die Offenheit, die Anna Klapheck bei Neu-Begegnungen für sich selbst beansprucht, läßt sie auch ihren Lesern. Sie hilft beim Kennenlernen, Sehen und Verstehen, blockiert aber keine Zugänge durch Über-Interpretationen. Allerdings hat diese Offenheit ihre Grenzen, wo es um Qualität geht. Wo sich Zweit- und Drittrangiges aufspielt, da sagt sie es unmißverständlich.

Das wichtigste Argument für dieses Buch aber: es verlangt nicht nach einem Wörterbuch der zeitgenössischen Kunst. Es ist eines.

Dirk Schwarze
In: Rheinische Post. Feuilleton, 8. Dezember 1979