Anna Klapheck Textforum

Der Mensch ohne Eigenschaften

Ausstellung Franz W. Seiwert im Kölnischen Kunstverein

Allerorts bildeten sich nach dem Ersten Weltkrieg, im Gleichschritt mit der politischen Revolution, auch im kulturellen Bereich revolutionäre Gruppen, die eine neue Kunst proklamierten. Ausstellungen, Zeitschriften, Manifeste dienten als Mittel. Die Berliner „Novembergruppe“ machte den Anfang, in München, Dresden, Darmstadt kam es zu „Sezessionen“, in Düsseldorf konstituierte sich 1919 das „Junge Rheinland“. Man kämpfte gegen die etablierten Institutionen, gegen die Akademien und überhaupt gegen die verhaßte Bourgeoisie.

Während im „Jungen Rheinland“, nach kurzer revolutionärer Phase, das Klima bald milder wurde, steuerte Köln einen sehr viel härteren Kurs an. Hier hatten Max Ernst, Arp und Baargeld eine Dada-Gruppe begründet und mit provokativen Veranstaltungen Stürme der Entrüstung entfesselt. Die Jugend ging zunächst willig mit. Bald aber zeigte es sich, daß die geistvollen Dada-Erfindungen mit ihrem Witz und ihrer Ironie den politisch engagierten Köpfen nicht genügten. So entstand - ein Gründungsdatum ist nicht bekannt - die „Gruppe progressiver Künstler“, die sich, neben der Kunst, vor allem dem gesellschaftlichen Auftrag verpflichtet fühlte. Der Zusammenhang zwischen den Mitgliedern war eng. Neben den Hauptfiguren, den Malern Seiwert und Hoerle, bildeten die Künstler Räderscheidt, Freundlich, Hans Schmitz, Gerd Arntz, Tschinkel und der Fotograf Sander den festen Kern.

Der Kölnische Kunstverein (Leiter: Wulf Herzogenrath) hat sich die Aufgabe gestellt, die Aufbruchszeit der Zwanziger Jahre, wie sie sich in Köln darstellt, noch einmal zu verlebendigen. Die repräsentative Schau „Vom Dadamax bis zum Gründgürtel“ (1975) griff das Thema als Ganzes an, es folgten Einzelausstellungen von Arntz und Sander. Die jüngste Veranstaltung gilt Franz Seiwert, dem unumstrittenen Haupt der Gruppe.

Merkwürdig gegensätzliche Elemente stoßen in diesem ernsten, früh von schwerer Krankheit gezeichneten Mann zusammen. Von Kind an litt er an einer schweren Schädelwunde, die ihm durch unsachgemäße Röntgenbehandlung zugefügt worden war und an deren Folgen er auch starb. Er entstammte bäuerlichen Verhältnissen, seine Mutter war in Oberpleis im Siebengebirge beheimatet. Die romanische Madonna in der dortigen Kirche hat ihn früh beeindruckt und formbildend auf ihn eingewirkt. Bis zuletzt blieb er in der katholischen Tradition des Rheinlands verwurzelt.

Zugleich war er ein leidenschaftlich politischer Mensch, wenn er auch jede Parteidoktrin ablehnte und die Entwicklung in Rußland mit wachsendem Mißtrauen verfolgte. Er war überzeugter Marxist, und das war in seinem Sinn: Glaube an ein neues Menschentum und die Utopie von kommendem Glück. Die Sprache des Expressionismus durchglüht die frühen Schriften. „Hört es, seht es, die Zeichen sind da ... wieder donnert eine Welt zugrunde.“

Die politische Theorie wurde in die künstlerische Praxis umgesetzt. Seiwert arbeitete als Maler, Bildhauer, Graphiker, Typograph. Auch schrieb er mit unermüdlichem Eifer: für Pfemferts „Aktion“, den Kölner „Vertilator“, den Münchner „Ziegelbrenner“. Mit seinem Freund Hoerle war er Begründer und Hauptmitarbeiter der Zeitschrift „a bis z“, die 1929 zuerst erschien, es auf 30 Hefte brachte und 1933 verboten wurde.

Seiwerts Stilform war der Konstruktivismus, dessen abstraktes Formgerüst er jedoch mit figuralen Bezügen durchsetzte. Im Gegensatz zu den russischen Konstruktivisten bleibt er, von geringen Ausnahmen abgesehen, immer im Bereich des Gegenständlichen. Illusionistische Erzählungen lehnt er ab; ein Kunstwerk sei nicht dazu da, „die Welt zu erklären, sondern zu ändern“. Es entsteht der anonyme, entindividualisierte Mensch, ein Geschöpf mit schematischem eiförmigem Kopf und runden Augen, oft mit eingeschriebenen Ziffern, die wohl das Aufgehen des Einzelnen in der Masse anzeigen sollen. Beigegebene Maschinenteile verweisen auf die soziale Situation. Die Figuren bilden häufig Gruppen („Die Arbeitsmänner“, „Bauernkrieg“). Gelegentlich, etwa in dem Bild „Stadt und Land“, mit der Mondsichel über den Häusern, klingt ein lyrischer Ton an.

Nahezu das gesamte Werk, soweit es noch vorhanden ist, konnte in Köln vereinigt werden, ein mühevolles Unternehmen schon deshalb, weil sich der größte Teil in Privatbesitz befindet. Nach expressionistischem Anfang ist um 1920 der bis zum Ende durchgehaltene Stil bereits fest geprägt. Eine unerwartete Bereicherung erhielt die Ausstellung durch die Stiftung der Witwe des erfolgreichen, von Geheimnis umwitterten Schriftstellers B. Traven, der, als er noch den Namen Ret Marut trug, mit Seiwert befreundet war. Bei seiner Flucht aus Deutschland nahm er 50 Werke Seiwerts mit nach Mexico, die nun zurückgekehrt sind und nach Schluß der Ausstellung der Sammlung Ludwig eingegliedert werden. Zur Ausstellung erschien als Buch-Katalog eine umfangreiche Monographie Seiwerts von Uli Bohnen, mit Werkverzeichnis, Werkanalyse und dem Abdruck der wichtigsten Schriften.

Ergänzend wird mit einer kleinen Ausstellung des Bildhauers und Graphikers Hans Schmitz (1896-1977) gedacht, der ab 1920 Mitglied der „Progressiven“ war. Ähnlich wie Seiwert gelangte auch er nach expressionistischem Anfang zur konstruktivistischen Bildauffassung. Auch sein Denken ist sozialistisch unterbaut. (Die Ausstellung geht weiter nach Münster, Berlin und Ludwigshafen.)

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Wissenschaft und Bildung, 14. Februar 1978