Anna Klapheck Textforum

„O diese Zeit hat fürchterliche Zeichen“

Prof. Tümmler über Französische Emigranten im Weimar Goethes

Schon mehrmals war der Historiker Hans Tümmler, Honorarprofessor an der Universität Köln, bei den Goethe-Freunden zu Gast. Er wählt stets umgrenzte Themen, stellt sie aber in zeitgeschichtliche Zusammenhänge. Durch seine unprofessorale Darstellungsweise, die - bei aller Sachkenntnis - die menschliche Seite nicht außer Acht läßt, vermag er seine Zuhörer zu fesseln.

Diesmal sprach er über „Französische Emigranten im Weimar Goethes“. Getreu seiner Gewohnheit, griff er zwei Einzelschicksale heraus, an denen das uns so schmerzlich vertraute Problem der Emigration in seiner ganzen Tragweite deutlich wurde. Die Lebenswege des Ingenieurs François-Ignace de Wendel und des Politikers Jean-Josèphe de Mounier sind denkbar verschieden, sie berühren sich darin, daß die französische Revolution sie aus der Heimat vertrieb und sie beide in Weimar in den Umkreis Goethes gerieten.

Goethe hat das tragische Schicksal de Wendels in seinen Tagebüchern aufgezeichnet. Offensichtlich empfand er Sympathie für den entwurzelten Franzosen, der sich im fremden Land sogleich um eine nützliche Tätigkeit bemühte. Tümmler kam im Weimarer Archiv einem Aktenstück auf die Spur, dem zu entnehmen ist, daß Goethe den erfahrenen Ingenieur beim Ilmenauer Bergbau unterbringen wollte, ein neuer Flamm-Ofen war ihm zugesagt. Doch die Sache verzögerte sich, Wendel verzehrte sich in Ungeduld, die bescheidenen äußeren Lebensumstände ließen ihn die Tiefe seines Sturzes empfinden. Mit der Überdosis eines opiumhaltigen Mittels setzte er seinem Leben ein Ende. Der einstige reiche Gießereibesitzer aus Lothringen liegt in Ilmenau begraben.

Jean-Josèphe de Mounier aus der Dauphinée, der in der konstituierenden Nationalversammlung und beim Ballhausschwur eine Rolle gespielt hatte, gelangte 1795 nach Weimar und wurde von der Hofgesellschaft gastlich aufgenommen. Für ihn fand sich eine Tätigkeit als Leiter einer Erziehungsanstalt in Schloß Belvedere, wo besonders junge Engländer ausgebildet wurden. Auch hier kam es zu Unstimmigkeiten, das Unternehmen scheiterte. Anders als de Mendel, konnte Mounier jedoch später nach Frankreich zurückkehren, als Präfekt eines Départements in der Bretagne fand er unter Napoleon ein ehrenvolles Amt.

Sein Sohn Edouard de Mounier hatte das Emigrantenschicksal durch ihn bereits in jungen Jahren kennengelernt. Im Strudel der Ereignisse kehrte er dreimal nach Weimar zurück, nahm zeitweilig auch an den dortigen Regierungsgeschäften teil. Goethe ist er gewiß häufiger begegnet, doch ein vertrauliches Verhältnis mag kaum bestanden haben.

Ein leiser dichterischer Nachklang dieser Schicksale ist möglicherweise in Goethes „Natürlicher Tochter“ zu finden, diesem von der französischen Revolution geprägten Drama. Die Gestalt des „Gerichtsrats“ könnte Züge des älteren Mounier tragen. Die berühmten Worte des Königs, beginnend mit der Zeile „O diese Zeit hat fürchterliche Zeichen . . .“ (die Urschrift befindet sich im hiesigen Goethe-Museum) zielt hin auf jene Schreckensherrschaft, der so viele Einzelleben zum Opfer fielen. Der humane Geist des klassischen Weimar vermochte einige Härten zu mildern.

K-k
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 20. Januar 1976