Anna Klapheck Textforum

Der „Plastische Urältervater“

Professor von Einem über „Goethe und Michelangelo“

Professor von Einem sprach im Goethe-Museum über „Goethe und Michelangelo“. Der 500. Geburtstag Michelangelos am 6. März wird, gemessen an anderen Gedenktagen, mit verhältnismäßig geringem Aufwand begangen. Keine große Ausstellung (nur das Britische Museum zeigt Zeichnungen vorwiegend aus englischem Besitz), keine offiziellen Feierlichkeiten. Um so dankenswerter, daß das Goethe-Museum des Tages gedacht hat und genau zum richtigen Datum, seiner eigenen Aufgabe gemäß, zu einem Vortrag einlud, der Goethe und Michelangelo nebeneinander stellte.

Der Redner, Professor von Einem, emeritierter Ordinarius der Bonner Universität und einer der besten Kenner der italienischen Renaissance, meisterte die Aufgabe in vorbildlicher Weise. Er behandelte sein Thema ohne Pathos und doch mit Anteilnahme, sprach knapp und klar und zog eine Fülle auch wenig bekannter Goethe-Zitate heran. Daß er sich nicht scheute, die Hauptwerke Michelangelos ohne Analyse als eine Art Begleitmusik im Lichtbild vorüberziehen zu lassen, bereicherte den durchaus wissenschaftlichen Vortrag um die Dimension unmittelbaren Erlebens.

Bekannter als die Beziehung Goethes zu Michelangelo ist seine lebenslange Verehrung für Raffael; bei ihm fand er „ein Talent, das uns aus erster Quelle das frischeste Wasser entgegensendet“. Doch mag er den Namen Michelangelos vermutlich schon im Elternhaus gehört haben, eine Notiz in seines Vaters Tagebuch läßt darauf schließen. Die Kunstauffassung in seiner Jugendzeit, durch Winckelmann beeinflußt, war allerdings Michelangelo gegenüber ablehnend. Erst die Geniezeit brachte die Wandlung. Künstler wie Füssli entdeckten in Michelangelo das Schöpferische schlechthin und fanden in seinen Gestalten sich selbst.

In Italien kommt es dann zur unmittelbaren Begegnung. Am 22. November 1786 besucht Goethe mit Tischbein die Sixtinische Kapelle, studiert die Deckengemälde und das Jüngste Gericht. „Ich konnte nur sehen und staunen. Die innere Sicherheit und Männlichkeit des Meisters, seine Großheit geht über allen Ausdruck.“ Er hat die Kapelle noch wiederholt besucht, so daß er die Gemälde schließlich „fast auswendig“ kannte. Auch den „Moses“ in S. Pietro in Vincoli suchte er auf; er habe sich, so sagte er später, die biblische Gestalt nie anders als in dieser sitzenden Haltung vorstellen können. Neben Kupferstichen und Zeichnungen nach den Gemälden erwarb er eine kleine Bronzestatuette des Moses, die noch heute in Weimar aufbewahrt wird. Ob er bei seinen kurzen Aufenthalten in Florenz die Mediceegräber gesehen hat, steht nicht fest.

Nach Mitteilung der Fakten ging v. Einem auf die innere Beziehung Goethes zu Michelangelo ein. Beide vereint die Nähe zur Antike. Michelangelos Bemühungen um die Formgesetze der Natur sei „der Schlüssel“ für Goethes Bewunderung für ihn. Beide suchten in der menschlichen Gestalt die Kenntnis der Struktur, nicht den Reiz der Oberfläche. Man weiß um Michelangelos anatomische Studien, Goethe hat sich noch in seinem Todesjahr über solche Studien Gedanken gemacht.

Auch der Dichter wurde von der Bilderwelt Michelangelos, die stets zur Urgeschichte der Menschheit führt, stark angerührt, von Einem verwies auf das Gedicht „Weltschöpfung“. Ebenso war beiden das Problem des „non finito“ gemeinsam. Michelangelo hat eine Anzahl unvollendeter Skulpturen hinterlassen; Goethe empfand seine Hauptwerke „Faust“ und „Wilhelm Meister“ als „unvollendbar“. Nur bei Michelangelo fand Goethe eine Parallele zur eigenen Daseinsproblematik und zur Last des inneren „Gequältseins“. In einem Brief an Schadow (1819) nennt er Michelangelo seinen „plastischen Urältervater“.

Der kleine Saal im Goethe-Museum konnte die Zuhörer kaum fassen. Thema und Redner erwiesen die gleiche Zugkraft, und der Beifall war nahezu stürmisch.

K-k
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Stadtpost/ Feuilleton, 10. März 1975