Anna Klapheck Textforum

Schrittmacher der Romantik

Über J. J. Winckelmann

Der Gast aus der DDR wurde mit besonderer Herzlichkeit begrüßt. Dr. Max Kunze ist Direktor des Winckelmann-Museums in Stendal – in der kleinen norddeutschen Stadt wurde Johann Joachim Winckelmann, der große Altertumsforscher, 1717 geboren, 1755 brach er auf nach Rom.

Der Name Winckelmann bedeutet einen Wendepunkt in der europäischen Geistesgeschichte. In der griechischen Antike fand Winckelmann die reinsten Quellen der Kunst; sein Wort von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ der antiken Werke fand Widerhall in der gesamten gebildeten Welt. Auf eine allgemeine Würdigung des großen Gelehrten kam es dem Redner jedoch nicht an. Sein Thema „Zwischen Frühklassizismus und Romantik“ befaßte sich im wesentlichen mit „Winckelmanns Wirkung auf Kunst und Literatur“ (so der Untertitel), wobei die romantische Dichtung im Vordergrund stand.

Aus reicher Kenntnis tastete der Redner die nachklassische Literatur auf Spuren der Winckelmannschen Lehre ab. Am sinnfälligsten sind diese zu greifen bei Jean Paul, dessen Bücher, besonders der „Titan“ voll Winckelmannschen Geistes sind und seine Lehre gleichsam ins Leben übertragen. Gesucht werden Größe und Ruhe; Friede und Freiheit sind oberstes Gebot. Im Helden des „Titan“ wird das antike Schönheitsideal am Vorbild des Apoll von Belvedere verwirklicht.

Einfluß ganz anderer Art übte Winckelmann auf den Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau aus, dem er in Rom begegnet war. Heimgekehrt, sah es der Fürst als Aufgabe an, sein Schloß und seinen Park in griechischem Geiste umzugestalten. „Venustempel“, „Drususbogen“, „Grotte der Egeria“ entstanden, sogar von „olympischen Spielen“ wurde geträumt. Die Dessau-Wörlitzer Schöpfung wurde zum Vorbild für andere deutsche Kleinstaaten. Goethe hat sie bewundert.

Winckelmann war jedoch nicht nur gelehrter Kenner und Erzieher – das schlichte Schauen blieb ihm stets ein Bedürfnis. Der Redner erinnerte an Heinse (eine Reverenz gegenüber Düsseldorf), der von den „Kathedralpossenreißern“ nichts wissen wollte. Er sah Rom mit Winckelmanns Augen. Von dessen „Nachahmungstheorie“ hielt er indes wenig und stieß zu ganz anderen Schichten der Hellenen vor. Der Redner erinnerte kurz an Hölderlins Griechensehnsucht und an Goethes berühmten Winckelmann-Aufsatz, den er „ein Monument eigener Größe“ nannte.

So war viel über romantische Kunst und Dichtung zu erfahren, wobei sich Winckelmann mit seiner genauen Optik, seiner Sprachgewalt und seinem sittlichen Ernst als „Quartiermacher“ einer ganzen Generation erwies.

Der knappe, von vielen Zitaten durchsetzte Vortrag hatte hohes literarisches Niveau. Ein klein wenig mehr hätten die Zuhörer aber doch wohl gern über Winckelmann selbst erfahren, über den kleinen Mann aus Stendal, der zum Präsidenten der gesamten Altertümer des Vatikans aufstieg und dessen Leben, auf der Heimreise nach Deutschland, durch grausigen Mord 1768 in Triest endete. Denn so genau wußten die meisten das nun doch nicht.

Anna Klapheck
In: Rheinische Post. Düsseldorfer Feuilleton, 10. Oktober 1981