Anna von Krane
1853 - 1937

Erinnerungen

„Wie ich mein Leben empfand“, Bocholt 1917

2. Teil: Einsame Freiheit. 1. Abteilung

Und die Freiheit kam doch endlich für den gefangenen Vogel. Die Türen seines Käfigs öffneten sich einmal, aber spät und nach langen schweren Jahren des Kampfes. Und diesen Weg zur Freiheit will ich jetzt erzählen und berichten, wie ich mein Leben im Sturm und Drang emfand.
Meine erste Jugend war vergangen , und meine zweite nahte ihrem Ende, wenn ich die Zeit zwischen fünfundzwanzig und dreißig so nennen darf. Ich war siebenundzwanzig Jahre geworden und hatten doch in den letzten Zeiten einiges Schöne gehabt. So eine sechswöchige Reise nach Oberitalien in Gesellschaft einer Bekannten, zu der mich mein Vater wunderbarerweise gehen ließ. Freilich auf mein Bitten tat er’s nicht, da mussten stärkere Kräfte in die Bresche springen! Eine Verwandte von mir, die ihm als Nichte nahestand, hat mir den Liebesdienst erwiesen, mich freizubetteln. Seine Familie hatte ja stets großen Einfluss auf ihn, er hing unbeschreiblich an den Seien, die den einzigen Umgang bildeten, den er suchte. Sonst saß er ja immer zu Hause und verkehrte mit niemand. […]
Italien – Genua, die Riviera, Mailand, Venedig, Verona – ja das war etwas für mich! Ich schwelgte in Glückseligkeit, und an dem Rückblick dieser kurzen Wochen zehre ich noch heute. Für meine künstlerische Bildung war es notwendig, das Land der Sehnsucht jedes Deutschen wenigstens in einem kleinen Stück gesehen zu haben. Und darum nehme ich es und nahm es auch damals als ein Gnadengeschenk Gottes an, der es mir ermöglichte. (S. 67f.)
Bei der Gelegenheit muss ich von meinem religiösen Leben überhaupt reden. Ich hatte, wie schon gesagt, wegen der eigentümlichen Ansichten meiner Erzieherin keinerlei Religionsunterricht erhalten, bis es an der Zeit war, mich für die Konfirmation vorzubereiten. Da ich nun um Gotteswillen nicht mit den anderen Kindern in den Religionsunterricht gehen durfte, da ich getrennt gehalten wurde, kam der gute Pfarrer zweimal die Woche zu uns, mir den Unterricht zu erteilen. Meine ganze Familie bestand aus gläubigen Menschen, da wurde für mich auch ein gläubiger Pastor ausgesucht, und dieser gab mir einen Unterricht, mit dem ich vollständig einverstanden war. Er befriedigte sowohl mein religiöses Bedürfnis, als er auch meinem inneren Wunsch nach etwas Positivem entgegenkam. […] Von dem, was andere Konvertiten erzählen, dass sie in der Jugend schon Zweifel am Protestantismus hatten und ihre Konfirmation ungern und ohne Erhebung über sich ergehen ließen, von dem war keine Spur in mir. Ich hatte viel Ergriffenheit und weihevolle Stimmung an jenem Tage und gedenke noch heute gern daran zurück. (S. 74f.) […]
Und wie kam ich zu katholischen Büchern und zu einer Kenntnis der Kirche Christi überhaupt? Ja, ich hatte noch katholische Freunde, sogar Verwandte, doch diese letzteren sprachen nie von Religion, die ersteren auch wenig, doch kam es hie und da dazu. Diese katholischen Freunde, unter denen Jugendfreunde waren, wenn man bei meiner Abgesperrtheit von solchen reden darf, hatte mir von jeher einen tiefen Eindruck gemacht durch ihr schönes vorbildliches Familienleben. Schon als kleines, unvernünftiges Kind empfand ich den Zauber der friedlich heimischen Luft jener Häuser, wenn ich einmal dort sein durfte, und wollte nie wieder fort, wenn ich geholt wurde, um in die ungemütliche Atmosphäre meiner mutterlosen Stube zu kommen. Und später gedachte ich immer gern der hübschen Sonntagnachmittage dort, wo die Familienmütter sich nicht für zu gut hielten, mit den Kindern zu spielen und einem Lotto oder dem uralten Glock- und Hammerspiel vorzustehen. Nachher trat dies wohl mehr zurück, aber ein gewisses Nachschwingen dieser Gefühle umfing mich doch wieder, als ich nun krank lag und meine katholischen Freunde, um mich zu trösten, von dem Königreich der geduldig ertragenen Leiden sprachen, wie es in den Lehren ihrer Kirche dargelegt ist.
Ich horchte hoch auf. Da war etwas Wirkliches. Etwas Greifbares, zum stützen und halten. Da war ein Glück, denn man sagte mir, ich sei nicht unnütz, nicht zu einem zwecklosen Dasein verdammt, sondern mir ginge ein wunderbares Feld der geistigen Tätigkeit auf, das ich bestellen könnte, im Gebet, in Betrachtung, in der Fürbitte und vor allem in der Geduld. Und Gott sähe dies und machte mich dadurch zur Mitarbeiterin an meinem Heil, zur Mithelferin an seiner Gnade!
Zum ersten Male dämmerte in mir ein Begriff auf von der wundersamen Gemeinsamkeit der Kirche. Wie der Brautleib Christi in der Vereinigung seiner Gläubigen besteht. Wie der dreifache Ring, der streitenden, leidenden und triumphierenden Kirche eine unauflösliche Gemeinschaft bildet, wo einer für den andern bittet und leidet und arbeitet, wo keiner eine Gnade für sich hat, sondern jeder vom Seinen dem anderen mitteilt . . .! Das war mir sehr überraschend. (S. 76ff.)
[Nach der Konversion zum Katholizismus im Jahr 1884, die der Vater verurteilte, durfte sie um andere Einflüsse zu erhalten, mit einer Bekannten zur Kunstunterrichtung nach Düsseldorf.]
In Düsseldorf aber kam ich wie in den Himmel. Gute freundliche Menschen, die mich nahmen, wie ich bin, die Möglichkeit, mein Talent auszubilden, freier ungequälter Kirchgang – was wollte ich mehr! Und da wachte auch meine Künstlerseele wieder auf, die über allen Glaubenszweifeln und Nöten und Krankheiten geschwiegen hatte. Ich atmete auf, unter Menschen zu leben, wo Künstlersein etwas Natürliches war. […] Es gefiel mir so gut in Düsseldorf, dass ich kaltblütig erklärte: „J’ y suis, j’ y reste!“ mit anderen Worten: ich weigerte mich kategorisch je nach Darmstadt zurückzukehren und mein Vater, dem bei einem Besuch in Düsseldorf die Stadt ebenfalls gefallen hatte, entschloss sich ‚vorläufig‘ einmal dort zu wohnen, wie er sagte. (S. 86f.)
[Der Vater ist aber ruhelos und verlässt Düsseldorf, um in Karlsruhe zu leben und sie muss mit.]
In Karlsruhe aber war es geschehen, dass ich mich fast ganz von der bildenden Kunst ab und der Schriftstellerei zuwandte. Erstlich kam ich zur Einsicht, dass ich körperlich den doppelten Anstrengungen eines wenn auch kleinen Haushaltes und der Malerei nicht gewachsen wäre. Dann hatte mir eine Kritik auf eine Ausstellung meiner Arbeiten hin unbarmherzig klar gesagt, dass ich kein Talent hätte, und dann verzweifelte ich selber daran, jemals das Geheimnis der Farbe zu ergründen und die Oelmalerei zu zwingen. Ich ließ die Pinsel aus der müden Hand sinken und ergriff die Feder, aber mit dem Gefühl einer gewissen Herabsetzung. Ich hatte eben zu lang unter Malern gelebt, die, wie in Düsseldorf, die erste Rolle spielten, um mich nicht ein wenig zurückgesetzt zu fühlen, nun auf einmal unter die „Schreiber“ zu zählen. Aber die Verhältnisse waren stärker als ich. Durch die verunglückten Finanzspekulationen meines armen Vaters war unsere Lage nicht glänzend, und das Schreiben bot mir Aussicht auf Geldverdienen. Da ergab ich mich darin und schrieb Geschichten. (S. 89)
[Ihre Unzufriedenheit mit einer Christus-Darstellung von Peter Rosegger brachte sie dazu, diese Thematik selbst zu bearbeiten und ihre erste Legende entstand: „Levi ben Alphäus“, für die sie einen katholischen Verleger fand.] … und so wurde ich katholische Schriftstellerin. (S. 131)


4. Teil: Excelsior

Ich habe meine Aufgabe im Leben erhalten, und ich will mich nach Kräften bemühen, sie zu lösen, den Posten auszufüllen, auf den mich mein Herr gestellt hat. Es ist keine kleine Sache, von Christus reden und erzählen zu sollen! Langsam und schwer nur begriff ich, dass es wirklich mein Beruf sei, ich hielt mich für zu schlecht solcher Aufgabe! Doch scheint es wirklich der Fall zu sein, dass mir dies aufgetragen ist, vielleicht um den Leuten zu zeigen, dass Gott sich auch die Geringsten zum Werkzeug aussuchen kann, wenn es ihm beliebt. Und wer wäre geringer, als ein Konvertit? Jemand, der früher in seinem Irrtum die heilige Kirche Christi beschimpfte und sich hochmütig von ihr wandte? (S. 171f.)
Aus einem scheinbar zufälligen Anlass entstanden meine vielen Christuserzählungen und alle Romane, die sich ihnen angeschlossen. Christus bildet das Thema meines Schaffens, und von ihm werde ich nicht müde zu erzählen, denn er lebt in meiner Seele in der tiefen Dankbarkeit, die ich ihm schulde. „Was zog Sie zur katholischen Kirche?“ Wurde ich einmal gefragt. „Christus im Sakrament“, antwortete ich, und diese Antwort wird wohl die richtige sein. So wie ich schon als Protestantin immer nach dem Abendmahl verlangte, so zog und hielt mich die göttliche Gegenwart im allerheiligsten Sakrament mit unwiderstehlicher Macht. Und erst, als durch die Dekrete von Pius X. die Kommunion frei gegeben war, da begann mein eigentliches Seelenleben aufzublühen in stiller Freude. […]
Und wenn ich nur bei einer einzigen Seele erreicht hätte, dass sie sich durch Lesung eines meiner Bücher besinnt, wie liebevoll ein guter Hirte ihr nachgeht, bis sie spricht: „Lasset uns ihn lieben, denn er hat uns erst geliebt!“ – dann bin ich hochbefriedigt. (S. 172f.)


Wenn ich’s bedenke . . . !
   Wie viele der Wege, der harten, der langen
   Bin ich schon auf blutenden Füßen gegangen
   Und hatte kein Licht und hatt‘ keinen Schein!
   Und wanderte, einsam, verlassen, allein . . .
   Und wusste nur dieses: Es muss wohl so sein!
   Doch – kam ich dann endlich zur Wegeswende
   Und meinte, nun sei meine Kraft am Ende,
   Da fand ich den Einen, der vor mir gegangen
   Auf einsamen Wegen, den harten, den langen,
   Mit blutenden Füßen, vom Kreuze beschwert!
   Da wurde mein Leiden in Freuden verkehrt!
   Wenn ich’s bedenke . . . !

(Ende der Erinnerungen, S. 199)