Clara Viebig
1860 - 1952

Clara Viebig: Mein Eifelland (1928)

Es ist ein wunderliches Gefühl, so auf den Wegen einer Vergangenheit zu wandern; ich habe das nie stärker empfunden, als hier in der Eifel. Es war im Frühherbst, da stand ich zwischen verstreuten Lavabrocken und sammelte Brombeeren. Ich blickte rechts, ich blickte links, vom Eifer des Pflückens besessen, der dem Jagdeifer gleichkommt, mit dem der Jäger das Wild verfolgt. Wie sie lockten, wie sie glänzten, die würzigen Beeren, nirgendwo süßer, nirgendwo würziger als gerade hier! Abschüssiger Hang; fest bohrt sich mein Schuh in die schwarze Asche, unter meinem benagelten Tritt knistert und knirscht uralte Lava. Vom Himmel herab gloßt noch die Sonne, prallt mir auf den Scheitel, prallt dem Kraterkamm über mir auf den Kopf, prallt auf die Asche, daß ich sie heiß unter den Sohlen spüre, glühend heiß. Als brennte da heimlich unterirdisches Feuer wie vor Jahrtausenden und drängte zu Tag. Ich war trunken. „Tausend Jahre sind vor mir wie ein Tag,“ das hatte ich immerfort in den Ohren. War es die Sonne, die also sprach, oder der schwarze Kraterkopf, oder die Luft, die mich umfloß wie ein heißes Bad, heilend und erregend zugleich? Einen Blick hinab ins tiefe, grüne Tal, wo Häuser stehen, wo Menschen wohnen, tat ich nicht – mir schwindelte – das war alles mir weit entrückt, grenzenlos fern. Und ohne Grenzen ging ich durch Phantasieland, durch Kinderland – uralte Mären von Pech und Schwefel, von Sodom und Gomorrha und Sintflut standen auf und sahen mich an. Der Kraterkopf über mir fing an zu spucken, das grüne Tal unter mir nur Flammen und Rauch, vernichtender Lavastrom allüberall. Und ich mitten drin, ein winziges Etwas, hilflos und doch nicht beängstet. Stand denn mein Fuß nicht auf Jahrtausenden? War diese Land nicht ewiges Land? Aus Schutt und Asche war es einst entstanden, und abermals wird es sich neu begrünen nach Untergang, blühen und Früchte bringen zu seiner Zeit.

Als ich zu Tal kam, läutete die Glocke des Kirchleins ängstlich, sie rief zum Gebet – es steht zurzeit nicht gut um das Vaterland – „Ave Maria, gegrüßet seist du Gebenedeite! Bitt’ für uns!“

Nirgendwo find Heidentum und Christentum sich so auf den Fersen. Burgen und Kirchen der Eifel aus Lavagestein, graue Vorzeit und leuchtend weiße Kapellchen auf Kraterkuppen; vor verfallenen Raubnestern die rotangemalten Wunden Christi am Kreuz. Eine Brücke schwingt sich, über die jeder gehen muß, der ganz verstehen will, was „Eifel“ heißt. –

Meine Augen werden hell, wenn ich von der Eifel spreche; sie ist und bleibt die Heimat meiner Sehnsucht und die Liebe meines Herzens. –

abgedruckt in: „Eifel-Kalender für das Jahr 1929“. Bonn 1928