Nobelpreisträgerinnen für Literatur
1909 - 1945

Selma Lagerlöf – die erste Literaturnobelpreisträgerin

Kindheit und frühe Prägung

Selma Lagerlöf wurde am 20.November 1858 in Östra Ämtervik, Schweden, geboren. Von ihrer Geburt an hatte sie ein krankes linkes Bein, das sie in ihrer Kindheit vom Toben mit anderen Kindern abhielt und sie zeitlebens humpeln ließ. Wegen dieser Behinderung verbrachte sie viel Zeit mit Lesen und entdeckte früh, dass sie Schriftstellerin werden möchte. Doch zunächst wurde beschlossen, Selma zur Lehrerin ausbilden zu lassen. 1882 begann sie ihre Ausbildung, die einem Studium glich. Der Schwerpunkt lag auf den naturwissenschaftlichen Fächern, aber auch Literatur und Philosophie konnten gewählt werden. 1885 wurde sie Lehrerin an einem Mädchenpensionat in Landskrona. Im selben Jahr starb auch ihr Vater und Gut Marbacka, der Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen war, befand sich schon ein Jahr nicht mehr in Familienhand.

Eine Mäzenin findet sich, der erste Preis wird gewonnen

Das Auftreten der Baronin Sophie Lejonhufvud Adlersparre als Mäzenin – sie hatte einige Sonette von ihr zu lesen bekommen - verhalf Selma zu einer Veröffentlichung in „Dagny“, der literarischen Revue der Frauenrechtlerinnen. 1890 sandte sie Kapitel eines Manuskripts an dem sie arbeitete an den Kurzgeschichtenwettbewerb und gewann den ersten Preis: 500 Kronen. Sie wurde erneut von der Baronin auf ihr Gut eingeladen und ein Jahr vom Lehrerinnendienst freigestellt.

So konnte sie sich von nun an ausschließlich dem Schreiben widmen. Ein Jahr später erschien das vollendete Manuskript unter dem Titel Die Legende von Gösta Berling und wurde ein bahnbrechender Erfolg. Der Roman erzählt von dem Bischof Gösta Berling, den seine Trunksucht ins Verderben stürzt. Zugleich ist es aber auch die Geschichte der Majorin Ekeby, auf der durch ihr Fehlverhalten in ihrer Ehe ein Fluch lastet. Diese zwei Handlungsstränge verwebt Selma Lagerlöf meisterhaft zu einer Saga. Doch erst als ihr zweites Buch 1894 Unsichtbare Bande erschien, konnte sie ihren Beruf aufgeben und als Schriftstellerin leben. 1897/98 erschienen ihre Bücher Die Wunder des Antichristen und Eine Herrenhofsage.

Ein Schulbuch für Schweden

Zu dieser Zeit erreichte sie die Bitte, sie möge ein Schulbuch über Schweden schreiben. Diesem Gesuch wollte sie nachkommen, doch wollte sie erst ihre anderen Projekte zu Ende führen. Bis zu dem Erscheinen der zwei Bände Jerusalem 1901 und 1902 waren dies Reisen. Selma Lagerlöf reiste durch Europa, erkundete Deutschland und Belgien und bereiste die Türkei und Griechenland. 1906/07 war es dann endlich soweit. Die Schulen in Schweden bekamen ihr Buch Wunderbare Reise des Nils Holgersson durch Schweden. Es wurde eines der berühmtesten und beliebtesten Kinderbücher aller Zeiten. Es erzählt die Geschichte des kleinen Nils, der aufgrund eines bösen Streiches gegenüber einem Wichtelmännchen selber in eines verwandelt wird und von zu Hause flieht. Er schließt sich den Wildgänsen an und lernt auf dem Flug mit ihnen Landschaft, Kultur und Geschichte Schwedens kennen. Er entwickelt eine tiefe Freundschaft zu dem Gänserich Martin und bekommt während der Reise immer wieder die Gelegenheit sich moralisch zu bewähren und innerlich zu wachsen.
Martin und Nils kehren zurück zu Nils Eltern, die Martin schlachten wollen. Nils überwindet seine Scham darüber, dass er nur ein Wichtelmännchen ist und stellt sich seinen Eltern in den Weg. Durch das ehrliche Einstehen für seinen Freund wird Nils wieder in einen Menschen verwandelt.

Einen aufklärend-bildenden Teil hat Lagerlöfs Geschichte mit der Thematisierung der „Tuberkulose“. Die Mutter und einige Geschwister von Nils Freund Mats sterben an dieser Krankheit, doch glauben die Hinterbliebenen zunächst an einen Fluch. Erst auf der Reise mit Nils erfahren Mats und seine Schwester Asa, was Tuberkulose ist und wie sich die Krankheit äußert. Lagerlöf greift dieses wichtige medizinische Thema ihrer Zeit noch einmal auf, indem sie dem Wunsch der Nationalen Liga zur Bekämpfung von Tuberkulose nachkommt und 1912 das Buch „Der Fuhrmann des Todes“ schreibt.

Nobelpreis 1909

Die Nobelpreisverleihung an Selma Lagerlöf war in Schweden schon länger erwartet worden, ihr ging aber eine kontroverse Diskussion im Vergabe-Komitee voraus. Die Vertreter des strikten Realismus mit seiner scharfen Gesellschaftskritik konnten mit dieser auf das Wunderbare fokussierten, volkstümlichen und auf innere Gefühlswerte ausgerichteten Erzählkunst nicht viel anfangen. Lagerlöf stand in Konkurrenz zu vorgeschlagenen Autoren wie Anatole France oder Maurice Maeterlinck. Die Originalität ihrer Werke, die Qualität ihrer dichterischen Gestaltung und ihre Anerkennung und Bekanntheit weit über die Grenzen Schwedens hinaus, die Alfred Nobel als Bedingung für eine Preisvergabe festgelegt hatte, waren schließlich ausschlaggebend für die Entscheidung zugunsten der Autorin.

Am 10. Dezember 1909 konnte die 51jährige Selma Lagerlöf dann als erste Frau den Literaturnobelpreis aus den Händen König Gustavs V. entgegennehmen. In der Begründung der Akademie für die PreisverleihungBegründung der Akademie für die Preisverleihung hieß es u.a. „Die Handhabung der Sprache ist bei Selma Lagerlöf über alles Lob erhaben. Sie hat das reiche Erbe ihrer Muttersprache mit töchterlicher Gewissenhaftigkeit ausgeschöpft. Hier wurzeln die sprachliche Einheit, die Klarheit des Ausdrucks und die musikalische Harmonie, die für ihre Schöpfungen bezeichnend sind. Diese Einfachheit und Reinheit, die Schönheit des Stils und die Kraft der Einbildung durchdringen sich völlig mit einem weiteren bemerkenswerten Zug ihres poetischen Genies: mit der moralischen Kraft und innerstem religiösen Gefühl. (...) Im Rhythmus ihrer Dichtkunst finden wir auf Schritt und Tritt das Echo dessen, was von alters her die Seele Schwedens bewegt hat, und das macht uns Selma Lagerlöf besonders teuer.“(1) „Es liegt im Sinne Alfred Nobels, diese Frau zu ehren, die mit beispiellosem Erfolg die empfindlichsten Seiten des menschlichen Herzens zum Erklingen brachte und deren Name und dichterisches Schaffen weit über die Grenzen Schwedens hinaus bekannt geworden sind.“(2) In ihrer Bankettrede nimmt sie den Preis wieder auf ihre ganz eigene und ungewöhnliche Weise entgegen, die Rede ist in Erinnerung an ihren Vater und all ihre Vorbilder, kleine und große, geschrieben:

Selma Lagerlöf berichtet von ihrer Zugreise nach Stockholm zur Preisverleihung. Wie sie im Zug sitzt und von der schnellen Fahrt des Zuges auf den unebenen Gleisen durchgeschaukelt wird, sieht sie in Gedanken vor sich ihren Vater, der lange vorher verstorben war, in einem Armstuhl sitzen und beginnt ein Gespräch mit ihm, in welchem sie ganz Tochter ist und fragt: „Vater, ich habe mich schwer verschuldet, wie soll ich diese Schulden jemals begleichen können?
Sie meint die Schulden, die sie den Menschen gegenüber hat, von denen sie zu ihren großartigen Werken inspiriert wurde. Sie nennt die großen skandinavischen Dichter Johan Ludvig Runeberg und Hans Christian Andersen und im gleichen Atemzug die armen Landstreicher, die alten Frauen vor ihren kleinen Häuschen, die ihr als Kind all die Geschichten von Trollen und verzauberten Mädchen erzählt haben und fühlt sich ihnen allen gegenüber in großer Schuld. In diesem Gespräch erinnert sie sich sogar an einen dänischen Kritiker, der ihr mit ein paar Worten in ganz Dänemark Freunde beschert hat.

Ihr Vater will und will nicht verstehen, warum sie sich so schuldig fühlt und sie kommt in Erklärungsnöte bis sie schließlich herausruft, dass sie den Nobelpreis für Literatur bekommen hat. Ihr Vater kann vor Stolz seine Tränen nicht mehr zurückhalten und versteht: Wie soll sie sich dieser Würde jemals erkenntlich zeigen? Ihr Vater schlägt mit der Faust auf die Lehne seines Sessels und sagt: „Ich werde mir meinen Kopf nicht zerbrechen über etwas, was sowieso niemand zwischen Himmel und Erde beantworten kann. Ich bin zu glücklich, als dass ich mir Sorgen machen könnte.“


Selma Lagerlöf schließt mit der Aufforderung in ihren Toast auf die Schwedische Akademie einzustimmen und sagt: „Eure Majestät, sehr geehrte Damen und Herren, ich habe keine bessere Antwort auf meine Fragen bekommen können!“

Engagement der späten Jahre

1914 wurde sie zum Mitglied der Schwedischen Akademie berufen und war zeitlebens in verschiedensten Gremien und Ausschüssen aktiv. Sie engagierte sich im Widerstandskampf gegen die Nazis und rettete noch 1940 Nelly Sachs das Leben, indem sie ihr zur Flucht nach Schweden verhalf. Selma Lagerlöf starb im selben Jahr am 16. März.














(1) Aus der Verleihungsrede, gehalten von Claes Annerstedt bei der Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Selma Lagerlöf am 10. Dezember 1909, abgedruckt in: Nobelpreis für Literatur 1909. Zürich: Coron-Verlag o.J., S. 21f.
(2) Ebd., S. 22.



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