Nobelpreisträgerinnen für Literatur
1909 - 1945

Gabriela Mistral – die erste Literaturnobelpreisträgerin Lateinamerikas

Kindheit und frühe Prägung

Gabriela Mistral erblickte als Lucila Godoy Alcayaga in Vicuna das Licht der Welt – es war der 7. April 1889. Ihre Kindheit und frühe Jugend verbrachte sie in dem kleinen Dorf im Elquital in den chilenischen Anden. Sie sollte das Wesen wie den Inhalt ihrer Dichtung bestimmen. Lucila wuchs ohne ihren Vater auf, der die Familie verlassen hatte, als sie drei Jahre alt war. In ihren Gedichten in denen sie oft Mutterliebe und Mutterschaft thematisiert, spielt eine Vaterfigur keine Rolle. Geprägt wurde sie von ihrer viel älteren Halbschwester Emelina aus der ersten Ehe der Mutter. Diese arbeitete als Lehrerin und auch Lucila trat später in den Lehrerinnenstand. 1901 zog die Familie nach La Serena und Lucila ging dort zur Schule. Aufgrund ihrer Schüchternheit fiel sie in der Schule negativ auf und man verstand das sensible Kind nicht.

Nach Schulverweis: Autodidaktin und frühe Schritte der Poetin

Als „geistesschwach“ wurde sie nach einem Vorfall von der Schulleiterin der Schule verwiesen. Von da an unterrichtete sie sich selbst um dann im Alter von 15 Jahren Hilfslehrerin an einer Landschule zu werden. 1904 erschien ihr erstes Gedicht „En la siesta de Graciela“ (dt. „Während Graciela Siesta hielt“) in der Zeitung El Coquimbo. Zwischen 1905 und 1907 war sie in zwei Dörfern im Elquital, nahe der Provinzhauptstadt La Serena tätig.




Große Karriere unter bedeutsamem Pseudonym

Ab 1913 schrieb sie unter dem Pseudonym Gabriela Mistral, das sie aus dem Nachnamen des französischen Autoren Frédéric Mistral und dem Vornamen des italienischen Autors Gabriele d’Annunzio zusammensetzte.

Sie selbst lässt verlauten, dass ihr Pseudonym von dem Erzengel Gabriel und dem Mittelmeerwind Mistral abgeleitet sei. Unter ihrem selbstgewählten und bedeutsamen Namen sandte sie dann 1914 die Sonetos de la Muerte, die Sonette vom Tode, in denen sie die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Selbstmord ihrer Jugendliebe verarbeitet, bei dem Literaturwettbewerb Juegos Florales ein. Sie gewann den ersten Preis, nahm ihn jedoch aus Schüchternheit nicht selbst entgegen. Mit diesem Preis begann ihre große literarische Karriere. Die Zeitungen in Chile und in Amerika wurden auf sie aufmerksam und wollten sie zu einer Mitarbeit bewegen.

Mistrals Lehrtätigkeiten und Meinung zur Frauenbildung

1921 wurde sie Schuldirektorin an einer der renommiertesten Schulen für höhere Töchter in Santiago de Chile. Sie unterrichtete später spanische Literatur an der Columbia University, am Middlebury College, am Vassar College und an der Universität von Puerto Rico. Ebenso warb 1922, nach ihrem großen Erfolg mit Desolación, der Erziehungsminister Mexikos um ihre Mitarbeit bei der dortigen Unterrichtsreform. Diese Einladung nahm Gabriela Mistral gerne an.Neben ihren lyrischen Werken beschäftigte sich Mistral auch mit theoretischen Abhandlungen zu Bildungsfragen Frauen betreffend. Ein Lesebuch mit einer Sammlung literarischer Texte von überwiegend hispanoamerikanischen männlichen Autoren brachte sie 1923 unter dem Titel Lecturas para mujeres heraus. Dieses Lesebuch widmete sie den Frauen, wie der Titel verrät. Ihr Ziel war es Frauen mehr Bildung bezüglich Geschichte und Kultur Lateinamerikas mitzugeben, da sie bei der Kindererziehung die Vermittler schlechthin seien und so Wissen von Generation zu Generation weitergegeben würde.

1924 fuhr sie von Mexiko nach Europa und zurück nach Chile. Im selben Jahr erschien ihre zweite große Gedichtsammlung Ternura (dt. Zärtlichkeit). 1929 starb ihre Mutter, der sie den ersten Teil von Tala widmet, welches aber erst 1938 erschien. 1930 wurde sie Gastprofessorin am Barnad College in New York. Während ihrer beruflichen Tätigkeit schrieb sie nebenbei Artikel für die Zeitung El Mercurio, die politische, sozioökonomische und kulturelle Themen zum Inhalt hatten. In Chile wurde sie 1932 in den Diplomatischen Dienst eingestellt und drei Jahre später Konsul auf Lebenszeit. Die nachfolgenden Jahre waren durch ihr neues Amt von vielen Reisen über Spanien, Italien, Portugal, die USA und Brasilien nach Mexiko, Mittelamerika, die Antillen und Puerto Rico geprägt. In den folgenden Jahren war sie Mutter für ihren adoptierten Neffen Juan Miguel und Konsul und vertrat ihr Land in Brasilien, Spanien, Portugal und den USA. Während des Zweiten Weltkrieges hielt sie sich in Brasilien auf, wo sie das Ehepaar Lotte und Stefan Zweig kennen lernte, mit dem sie bald eine enge Freundschaft verband. Der Freitod des Ehepaars 1942 erschütterte sie sehr. Die Selbsttötung des von ihr adoptierten Neffen Juan Miguel ein Jahr später verstärkte ihre tragische Grundstimmung in dieser Zeit.

„[…]
So lange schon tret’ ich auf Lava,
daß meine Füße den Flaum vergaßen.
Seit Jahren beißen meine Zähne die Wüste,
und meine Heimat heißt Durst.“
(Nocturno)



Nobelpreis für eine Repräsentantin Lateinamerikas

Im Jahr 1945 hatte sich die Schwedische Akademie auf die Verleihung des Nobelpreises an Paul Valéry geeinigt. Dieser starb jedoch vor der offiziellen Nominierung. Während der neuen Beratungen rückte Gabriela Mistral in den Fokus, die schon seit 1940 von verschiedenen Seiten vorgeschlagen worden war. Der Zugang zu ihrer Lyrik war jedoch durch die spanische Sprache und kaum verfügbare Übersetzungen sehr erschwert. In der Begründung des Nobelpreis-Komitees wird der repräsentative Charakter ihres lyrischen Werks für ihre Heimatregion hervorgehoben. Diese „von starkem Gefühl getragene Lyrik“ habe „ihren Dichternamen zu einem Symbol für die idealistischen Bestrebungen der ganzen lateinamerikanischen Welt gemacht“. Sie wird als „Geisteskönigin von ganz Lateinamerika“ vom Laudator Gullberg gefeiert. Bezüglich der Lyriksammlungen wird besonders „Desolatión“ hervorgehoben, durch die sie sich als „Sängerin der Mutterliebe für mutterlose Kinder“, „als große Sängerin von Barmherzigkeit“ ausgezeichnet habe (1)

Mistral wirkte weiter als Konsulin in Europa und arbeitete in den fünfziger Jahren in New York bei der UN in Ausschüssen für die Rechte von Frauen und Kindern. 1954 erschien ihr vierter und letzter Lyrik-Band „Lagar“ („Weinkelter“), in dem die ganze Breite ihrer Lebensthemen entfaltet wird. Gabriela Mistral starb am 10. Januar 1957 in der Nähe von New York. In Chile wurde eine dreitägige Staatstrauer anberaumt.
Trotz der internationalen Würdigung durch den Literaturnobelpreis gestaltete sich in Europa eine adäquate Rezeption ihres Werks als schwierig, da sie oft eingeschränkt wurde auf die biografische Dimension: Lyrik als Ausdruck privater Liebes- und Leidenserfahrung. Ab den 90er Jahren wurden demgegenüber in der Forschung die Identitätsdiskurse in ihrer Mehrschichtigkeit gewürdigt ebenso wie die spezifischen religiösen und mythischen Konfigurationen in den Gedichten. (2)









(1) Kjell Strömberg: Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises. In: Gabriela Mistral: Gedichte. In der Reihe Nobelpreis für Literatur, Bd. 40. Zürich: Coron-Verlag, o. J., S.13.
(2) Beispielsweise bei Karin Hopfe: „Muttersprache, fremde Sprache. Zur Poetik Gabriela Mistrals“. In: Horizont-Verschiebung. Interkulturelles Verstehen und Heterogenität in der Romania. Festschrift für Karsten Garscha zum 60. Geburtstag. Tübingen 1998, S. 437-448 und bei Martin Taylor: „Gabriela Mistral’s Struggle with God and Man“. North Carolina & London 2012.



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