Sigrid Undset – Skandinaviens zweite Literaturnobelpreisträgerin
Kindheit, Jugend und früher Werdegang

Sigrid Undset wurde am 20. Mai 1882 in Kalundborg, Dänemark geboren. Im Alter von zwei Jahren zog sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Oslo. Ihr Vater, ein berühmter Archäologe, hatte dort eine Berufung an die Universität erhalten. Als er 1895 vermutlich an Syphilis starb, konnte ihre Mutter die Familie - Sigrid hatte noch eine weitere Schwester bekommen – nur schwer ernähren. Anstatt weiter zur Schule zu gehen, was dadurch möglich gewesen wäre, dass die Schulleiterin den Kindern das Schulgeld erließ, entschloss sich Sigrid Undset mit 17 Jahren die Schule zu verlassen und eine Anstellung zu suchen. Sie arbeitete von da an 10 Jahre lang bei einer großen Firma in Oslo. In einer autobiographischen Notiz, die sie im Rahmen der Nobelpreisverleihung machte, erzählt sie, dass es ihre freie Wahl war, die Schule zu verlassen um ihre Familie unterstützen zu können. Die Arbeit machte ihr keine Freude, auch die Schule hatte ihr keine bereitet, aber aus Pflichtbewusstsein blieb sie bei der Firma angestellt. In ihrer Freizeit beschäftigte sie sich mit den Literaturen und Kulturen Skandinaviens und: sie schrieb. Noch während ihrer Arbeit als Büroangestellte erschienen zwei Bücher von ihr.
Literarisches Debüt und inhaltliche Kennzeichen

Undsets literarisches Debüt ist der 1907 erschienene Roman Fru Martha Oulie (dt. Frau Martha Oulie, 1998), dessen Titelheldin sich in ein außereheliches Verhältnis begibt um ihrer tristen und unbefriedigenden Ehe zu entfliehen. Die Hoffnungen, die die Protagonistin an dieses Verhältnis richtet, werden enttäuscht. So wie dieser Frauengestalt geht es vielen anderen in Undsets Romanen.
. Die auf ihren Erstlingsroman folgenden Werke wie z.B. Jenny (dt. 1911) und Vaaren (dt. Frühling, 1914) spielen wie jener in der Gegenwart und stellen den Menschen in all seinen möglichen Gefühlsnuancen dar. Der Mensch ist handelndes Subjekt und für sein Lebensglück verantwortlich, das er Undsets Meinung nach erreichen kann, wenn er sich einem größeren Ganzen als seiner selbst aus freiem Willen unterordnet. Sie bricht damit mit der bisherigen norwegischen Tradition des Naturalismus, der den Menschen ausschließlich als unfrei angesehen hatte.
Katholizismus und psychologisches Feingefühl in ihren großen mittelalterlichen Romananthologien
Ihre Bekehrung zum Katholizismus 1924 spielt mehr und mehr eine Rolle in ihren nachfolgenden Büchern. In ihren späteren Werken, für die sie den Nobelpreis für Literatur des Jahres 1928 verliehen bekam, siedelte sie ihre Geschichten im 13. und 14. Jahrhundert an und religiöse Werte wie Erfurcht und Treue werden zu Leitmotiven dieser Romane. Das psychologisch-feinfühlige Darstellen der Personen war für Undset in diesen Romanen genauso entscheidend wie in ihren modernen Werken.
Auch die Problemwelt der Charaktere ihrer Romane Kristin Lavransdatter (dt. Kristin Lavranstochter, 1926/27) und Olav Audunssøn i Hestviken / Olav Audunssøn og hans børn (dt. 1928/29) ist dieselbe geblieben. Undset geht davon aus, dass besonders zwischen Mann und Frau immer schon die gleichen Sorgen und Probleme existierten. Hier setzen auch die meisten Einwände an, denn obwohl es sich bei diesen großen Romanen um historische handelt, stellt sie nicht historisch herausragende Persönlichkeiten dar, sondern Alltagsmenschen. Die Romane gehen eine Gradwanderung ein zwischen höchster Genauigkeit in geschichtlicher Darstellung und Kenntnis vom faktischen, gesellschaftlichen Zusammenleben auf der einen Seite und subjektivem Einfühlen und subtilem Verständnis für vermeintliche Gefühle ihrer Protagonisten auf der anderen Seite. Undset verficht in den im Mittelalter spielenden Geschichten teilweise sehr moderne Ansichten.
Nobelpreis 1928
Sigrid Undset bekam 1928 im Alter von 46 Jahren den Nobelpreis für ihre Mittelalterromane Kristin Lavranstochter und Olav Audunsson und war damit nach Selma Lagerlöf (1909), die den Nobelpreis zuerkannt bekam. Sie setzte sich gegen die in dem Jahr auch erwogenen Ricarda Huch, Concha Espina und Olav Duun durch. Sie wurde für eben diese Romane geehrt, aber in der Nobelpreisausgabe wird aus Platzgründen der viel frühere Roman Frühling (1914) abgedruckt. der auch inhaltlich zu den großen Epen eine Abweichung darstellt. Er spielt in der Gegenwart und es gelingt der Protagonistin, wie in keinem anderen Roman, ein Liebesglück in der Ehe ohne Preisgabe von eigenen, elementaren Wünschen zu etablieren. Stilistisch gehört Undset mit ihrem Schreiben zu den Neorealisten, die ein gesteigertes Interesse an der Geschichte Skandinaviens bedingt durch die norwegisch-schwedische Unionsauflösung von 1905 hatten. Der Historizismus lässt die Neorealisten als literarische Form vor allem den historischen Roman wählen. Undset siedelte die Geschichten im 13. und 14. Jahrhundert an, aber diskutiert anhand ihrer Protagonisten durchaus moderne Problemfelder, wie das der Liebe und Ehe oder der Religiosität contra dem Fortschrittsgedanken.

Kristin Lavranstochter, die Protagonistin aus der gleichnamigen Romantrilogie, erfährt die Ehe als eine Institution fernab der Liebe und des Aufgehobenseins und wird schließlich Nonne, ihr Leben bei der Bekämpfung der Pest opfernd. Kristins Tragik wird durch ihren Tod für andere im Rahmen ihrer Tätigkeit als Nonne erst als sinnvoll beschrieben. Als sich ihr Leben in den katholischen Bezugsrahmen einordnen lässt, macht dieses rückwirkend einen Sinn. Der Katholizismus ist in diesem Werk wie in Olav Audunssohn sinnstiftende Instanz.
Auch Olav Audunssohn findet den Weg von einem Heiden zum gläubigen Christen. Treue ist im heidnischen Wertesystem wie im christlichen Glauben verankert, jedoch wird diese von seiner Frau, indem sie sich von einem anderen Mann verführen lässt, gebrochen und Olav sieht sich veranlasst am Verführer Rache zu nehmen. Das zu dem Zeitpunkt für sie skandinavischen Länder neue Christentum bedeutet für Olav, dass er sich durch den Mord mit Schuld belädt und kann erst in der Erkennung dieser und in der Sühne eine Wiedergutmachung erreichen.
Bei den beiden Romanen handelt es sich also um Bekehrungsromane, die sich intensiv mit den Gedanken rund um den katholischen Glauben beschäftigen, die auch für Undset in den Jahren vor 1925 von höchster Bedeutung war.
Die Schwedische Akademie verlieh Undset den Nobelpreis für die in ihren Protagonisten zu Tage tretende vollkommene Aufschließung des menschlichen Wesens in einer bestechenden Genauigkeit der Charakterdarstellungen und für ihren vor Kraft und Reichtum strotzenden Erzählstil. Das Komitee lobte Undsets Travestie, die in den feinfühligen, nuanciert poetisch komponierten Charakteren und deren drückender und herber Lebenswelt liegt, die die Bedingung für den Kompromiss zwischen Gegenwart und Vergangenheit sei. Undset gelingt es menschliche und religiöse Themen eindringlich in den monumentalen Epen darzustellen.

Den größten und immer wieder hervorgebrachten Kritikpunkt an Undsets historischen Romanen nennt auch Per Hallström in der Verleihungsrede. Die Romane gehen eine Gradwanderung ein zwischen höchster Genauigkeit in geschichtlicher Darstellung und Kenntnis vom faktischen, gesellschaftlichen Zusammenleben auf der einen Seite und subjektivem Einfühlen und subtilem Verständnis für vermeintliche Gefühle ihrer Protagonisten auf der anderen Seite. Undset erörtert in den mittelalterlichen Geschichten teilweise moderne Ansichten und so sah sich Hallström veranlasst zu erwähnen, dass unter dem Deckmantel der Geschichtswissenschaft, die Frauenfrage in einer Zeit diskutiert wurde, in die sie sicherlich nicht hineingehörte. Jedoch stellte dies für ihn keinen echten Abstrich dar – und wohl auch nicht für die Schwedische Akademie.
Inhaltliche Rückkehr zum modernen Menschen
Nach dem Abschluss dieser umfangreichen Romane hat Sigrid Undset sich erneut mit dem modernen Menschen auseinandergesetzt. Das Religiöse tritt wie in den mittelalterlichen Romanen in den Vordergrund. So befindet sich der Protagonist ihrer beiden Werke Gymnadenia (dt. Die weiße Orchidee, 1929) und Den Braendende Busk (dt. Der brennende Busch, 1931), Paul Selmer, als Agnostiker auf dem Weg zum aktiven Glauben an Christus. Undset setzt sich in diesen Romanen mit dem Gedanken auseinander, welche Position die Kirche gegenüber dem beherrschenden Fortschrittsgedanken der Moderne einnimmt.
Ihr Beitrag zur Frauenfrage

Neben Belletristik publizierte Undset ein theoretisches und zeitkritisches Werk, Ein Frauenstandpunkt betitelt, indem sie die Frauenfrage auf konservativ-katholische Weise diskutiert. Ihr Aufsatz „Fortschritt, Rasse, Religion“ von 1935 bekämpft den Nationalsozialismus und in ihrem Buch Wieder in die Zukunft (1942) berichtet sie von ihrer Flucht vor den Nazis. Auf dieses Manifest hin äußerte sich Karl Jaspers 1945 in der Broschüre Die Antwort an Sigrid Undset.
Tätigkeiten im Exil
1940 musste sie 58jährig mit ihrem jüngsten Sohn auf Skiern über die Berge nach Schweden fliehen und gelangte von dort über Russland in die USA. Dort war sie bei Zeitungen und für den norwegischen Informationsdienst aktiv gegen die Nationalsozialisten tätig. Nach fünfjährigem Exil kehrte sie nach Norwegen zurück, konnte aber auf literarischem Gebiet nur noch die Biographie über Katharina von Siena fertig stellen. Sigrid Undset starb 1949 in Lillehammer.
Zeittafel: Sigrid Undset
*20. Mai 1882 | in Kalundborg, Dänemark |
1907 | Debüt mit Fru Martha Oulie (Roman, dt.: Frau Martha Oulie, 1998) |
1912 | Heirat mit Anders Castus Svarstad |
1913 | Vaaren (Sozialroman, dt.: Frühling, 1926) |
1920-1922 | Kristin Lavransdatter (Romantrilogie, dt.: Kristin Lavranstochter, 1925-27) |
1925 | Olav Audunsson (Roman in 2 Bänden, dt.: Olav Audunssohn, 1928/29) |
1928 | Literaturnobelpreis |
1940 | Flucht über Schweden und Russland in die USA |
1945 | Rückkehr nach Norwegen |
† 10. Juni 1949 | in Lillehammer, Norwegen |